Vom 3. bis 7. Mai fanden unterschiedliche Aktionen zum Worldwide Day of Genital Autonomy 2023 statt. Gemäß dem diesjährigen Schwerpunktthema "Genitale Selbstbestimmung in der Kunst" war der Kreativ-Anteil in diesem Jahr bemerkenswert hoch. Eva Matthes reiste nach München, Wien und Köln und nahm einige Eindrücke mit.
Am Mittwoch, 3. Mai wurde am PATHOS Theater in München der Parcours "It's Mine – Parcours der Genitalen Selbstbestimmung" eröffnet. Auf dem Kreativquartier in der Dachauer Straße kann nun bis Ende Mai in Eigenregie rund um die Uhr dieser Audio-Rundgang mit sieben Stationen rezipiert werden, der über die Geschichte der Genitalautonomie-Bewegung und den Worldwide Day of Genital Autonomy (WWDOGA) informiert.
Die Stationen des Parcours starten am Schwere Reiter und führen einmal über das gesamte Gelände. Bei einer Länge von 5 bis 7 Minuten pro Audio-File sind alle Folgen aneinandergereiht in etwa 45 Minuten zu schaffen. Mitzubringen ist lediglich ein Smartphone mit QR-Code-Scanner.
Inhaltlich werden sehr verschiedene Facetten der Thematik beleuchtet. Neben den Anfängen der Genitalautonomiebewegung mit Marilyn Milos in den USA und der "Gesetzgebung der Komiker-Nation Deutschland" (so der Original-Titel von Station 3) wird auch auf die Geschichte der medikalisierten Genitalverstümmelung in den USA und Europa eingegangen. Neben einer hohen Dichte an Informationen erhält man beim Zuhören immer auch die Aufforderung, selbst das Gehörte zu reflektieren, indem Anstöße zum Weiterdenken gegeben oder kluge Fragen gestellt werden.
Die Idee zu diesem Parcours ist im Team des PATHOS Theater entstanden, das den WWDOGA bereits seit letztem Jahr unterstützt. Der Parcours eignet sich sowohl für Menschen, die das Thema schon länger auf dem Schirm haben, als auch für Neulinge.
Am Nachmittag des 4. Mai startete dann in der Wiener Innenstadt eine 3 Meter hohe Klitoris als Stelzen-Läuferin den Clit-Walk. Die österreichische Organisation Aktion Regen hatte zu diesem Event in die Fußgängerzone geladen. Seit 1989 arbeitet der Verein mit sogenannten "Rain Workern" vor allem mit Bildungsinitiativen, um patriarchale Strukturen aufzubrechen und Mädchen und Frauen ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen. Mit "Clit-Walk und Clit-Talks" sollte ein größeres Bewusstsein für die weibliche Genitalverstümmelung geschaffen werden, die durch Migrationsbewegungen längst auch in Österreich angekommen ist. Der kreative Zugang zum weiblichen Genital und der enttabuisierte Umgang mit dem noch immer unterschätzten Lustorgan erreichte zahlreiche Passant*innen in der belebten Einkaufszeile. Und die vielen Mitarbeiterinnen von Aktion Regen in ihren blauen T-Shirts zeigten mit guter Laune und Begeisterung für ihre Arbeit, dass der Kampf für mehr Selbstbestimmung und Bildung von Mädchen und Frauen eine nicht nur harte, sondern auch sehr erfüllende Aufgabe sein kann.
Am 7. Mai selbst startete das Online-Programm zunächst mit dem Streaming vorproduzierter Video-Beiträge. Das dortige Programm war in diesem Jahr jedoch nicht so üppig wie während der Corona-Pandemie. Auch gewann man den Eindruck, es sei alles Wesentliche schon etliche Male gesagt worden.
Aktion Regen machte auch in diesem Jahr wieder mit der #TogetherWeEndFGM-Kampagne auf FGM_C in Ländern West-, Ost- und des südlichen Afrikas aufmerksam. In einem etwa 20-minütigen Film reihte sich ein Expert*innen-Statement an das andere. Aktion Regen-Geschäftsführerin Dr. Ines Kohl bringt es auf den Punkt, wenn sie sagt, es sei ein Paradox, dass man einer Frau erst etwas abschneiden muss, um sie zu einem vollwertigen Mitglied der Gesellschaft zu machen. Die Einzelvideos werden in den kommenden Wochen weiter auf den Social Media-Kanälen von Aktion Regen veröffentlicht.
Die Video-Grußworte aus der Politik sind allesamt wohlwollend, aber doch nach wie vor etwas feige. Neben klaren Worten für den Gratismut bei weiblicher Genitalverstümmelung und genitalnormierenden OPs an intergeschlechtlich geborenen Kindern, scheint es Mitgliedern des Bundestages noch immer nicht möglich zu sein, kleine Jungen in ihre Forderungen nach Unversehrtheit miteinzubeziehen. Die Gründe sind bekannt und das Verhalten von Politiker*innen wenig überraschend. Einzig die Worte von Tessa Ganserer (Bündnis 90 / Die Grünen) kamen unerwartet. Als eine Person, die sich selbst täglich von Zuschreibungen und Normierungen emanzipieren muss und die Gefühle der Ohnmacht und Hilflosigkeit genau kennen dürfte, von denen die negativ betroffenen Männer sprechen, kann man ihren Beitrag leider lediglich als enttäuschend einstufen. Nach der Betonung des Ewig-Gleichen zu FGM und Intersex-OPs bedankt sie sich beim Verein MOGiS e.V. für die Arbeit zum Thema "Jungenbeschneidung" – was angesichts der über 80 teilnehmenden Organisationen doch etwas befremdlich wirkt. Doch wer weiß – Frau Ganserers erstes Grußwort zum WWDOGA muss durchaus nicht das letzte gewesen sein. Und natürlich kann es nicht hoch genug geschätzt werden, dass Abgeordnete sich des Gedenktages überhaupt annehmen. Die große Mehrheit schweigt schließlich weiterhin.
Der für 12 Uhr angekündigte Live-Stream startete wegen technischer Verzögerungen etwas verspätet, lief dann aber reibungslos ab. Auf der Kundgebung in Köln waren wieder vielfältige Redebeiträge von Gästen aus Deutschland, Schweiz, Vereinigtem Königreich, USA und Finnland zu hören.
Gislinde Nauy stellte das neue Projekt "Join our CHAIN" von Terre des Femmes e.V. vor, in dem Community-Arbeit zu den Themen weibliche Genitalverstümmelung und Zwangsheirat gemeinsam geleistet wird. Der Ansatz sei hier, patriarchale Machtstrukturen als Gesamt-Komplex anzugehen, da sich dies als effektiver Weg herausgestellt habe, nachhaltiges Umdenken zu bewirken. Klare Worte fand sie auch für die Beschneidung von Jungen, die sie durchgehend "männliche Genitalverstümmelung" nannte. Terre des Femmes stehe als Frauenrechtsorganisation auch hinter der Forderung zur Rücknahme des 1631d BGB, da Genitalverstümmelung allgemein immer patriarchale Gewalt sei und das feministische Ziel der Gleichberechtigung aller Menschen natürlich auch männliche Kinder mit einschließe.
Lasse Schäfer von der Partei der Humanisten hielt ein Plädoyer für mehr Säkularismus und die strikte Trennung von Religionsgemeinschaften und Staat. Das oft gehörte Argument, es gäbe derzeit Wichtigeres, als sich für genitale Selbstbestimmung zu engagieren, konterte er mit: "Man kann gegen den Klimawandel sein und gleichzeitig für sexuelle Selbstbestimmung. Das widerspricht sich nicht."
Lilith Raza von SOFRA Queer Migrants sprach sehr emotional über ihr eigenes Schicksal. Als Kind muslimischer Eltern dem männlichen Geschlecht zugewiesen wurde sie mit knapp vier Jahren "beschnitten" und entschied sich später zu einer Transitions-OP, um selbstbestimmt als Frau leben zu können. Sie kritisierte Deutschland, welches sich stolz als Rechtsstaat bezeichne, aber die Kinderrechte missachte, indem es Kinder nicht vor genitalen Zwangseingriffen schütze. Die Genitalien gehörten jedem Menschen selbst, Eltern oder der Staat seien nicht berechtigt, darüber zu verfügen.
Victor Schiering von MOGiS e.V. – eine Stimme für Betroffene benannte die gemeinsamen Werte, Vorstellungen und Ziele des WWDOGA: Gleichstellung, Selbstbestimmung und Respekt vor der Verschiedenheit eines jeden Menschen. Diese stünden als Schlagworte auch täglich in unseren Medien und Abgeordnete ließen sich als deren Anwält*innen dort permanent abfeiern. Dennoch hätten die meisten nicht auf die Einladung zum WWDOGA reagiert. Er wies darauf hin, dass dies aus Angst geschehe, die er durchaus anerkenne, doch sei ihnen nicht die Deutungshoheit über Menschenrechte, vor allem nicht über die Schutzrechte von Wehrlosen, zu überlassen. "Keine Angst von Erwachsenen vor Beschäftigung mit einem von ihnen als bedrohlich empfundenen Thema darf mehr Respekt erfahren als die Angst eines Kindes, wenn sich Erwachsene ohne zwingende medizinische Notwendigkeit ihnen mit einem Messer nähern."
Als Betroffenen-Vertretung kann der Verein eigene Perspektiven einbringen, aber den Raum für Kinderschutz zu schaffen sei Aufgabe der Politik – die Abschaffung des 1631d BGB eine Grundvoraussetzung, damit Kinderschutz überhaupt möglich werden könne. Nach 11 Jahren, in denen Betroffene sich engagiert haben, sei es nun endlich an der Zeit, dass Menschen in privilegierten Positionen aktiv würden.
Die genannten Beiträge, alle weiteren Reden sowie das gesamte Videomaterial ist auf YouTube veröffentlicht.
Die Einzel-Videos (auch mit deutschen bzw. englischen Untertiteln) werden in den kommen Wochen auf den YouTube-Kanal des WWDOGA hochgeladen.
6 Kommentare
Kommentare
Gerhard Baierlein am Permanenter Link
Tolle Aktionen über ein etwas vernachlässigtes Thema, welches wieder einmal zeigt,
wie groß der Nachholbedarf in Sachen Gesetze zur Körperlichen Unversehrtheit ist.
Roland Fakler am Permanenter Link
Die Unversehrtheit von Kindern und deren Selbstbestimmungsrecht muss wichtiger sein, als die Freude eines nichtexistierenden Gottes an abgeschnittenen Vorhäuten.
Rene Goeckel am Permanenter Link
Wenn Religioten sich mit scharfen Gegenständen an Kindergenitalien zu schaffen machen, ist das ebenso schlimmer Kindesmissbrauch. Wie kann man sowas nur erlauben?
David Z am Permanenter Link
Das Urteil war, ist und bleibt falsch, sowohl rechtlich wie auch ethisch.
Allein politisch kann man es im gewissen Rahmen nachvollziehen, Stichwort deutsche Geschichte/Judenverfolgung. Allerdings haben Gerichte nicht politisch zu entscheiden sondern auf Basis unserer Gesetze. Es bleibt also auch weiterhin ein ziemlich bitterer Beigeschmack bei dieser Sache. Sie stellt ein ultimatives Armutszeugnis für unsere deutsche Legislative/Politiker und Judikative/Richter dar und ist mMn eines der schlimmsten Kollektivversagen der dt. Nachkriegsgeschichte.
Gerhard Baierlein am Permanenter Link
Absolut richtig!
Marie Wesener am Permanenter Link
Das Kölner Urteil war richtig.
Falsch war das Gesetz, das im Dezember 2012 kam.
Der 7. Mai erinnert als Gedenktag an das Urteil, welches pro Menschenrechte ausfiel.