Wie woke sind wir? Erste Studien veröffentlicht

Über "Wokeness" wird viel und kontrovers diskutiert, dabei war bisher überhaupt nicht klar wie verbreitet das Phänomen ist. Drei aktuelle Studien geben dazu nun erste Eindrücke. Die Resultate: Es ist weniger verbreitet, als man denkt, aber verbreiteter, als es gut wäre.

Bei Wokeness handelt es sich um eine Form des weltanschaulichen Aktivismus, der seine philosophischen Grundlagen im Postmodernismus findet und seine Legitimation durch die "Critical Studies" erhält. Die hehre Vision der sozialen Gerechtigkeit bildet das Fundament des woken Ideengebäudes, welches aus liberaler und aufklärerischer Perspektive höchst unterstützenswert ist. Die praktische Umsetzung dieser Vision bedient sich allerdings oft anti-aufklärerischer, anti-naturalistischer und anti-wissenschaftlicher Narrative und steht paradoxerweise in einigen Punkten den Grundsätzen der "Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte" entgegen. In der Konsequenz geht daher auch von Wokeness eine Gefahr für die Offene Gesellschaft aus, die zurecht kritisch beleuchtet werden muss. In diesem Artikel soll es allerdings nicht um eine weitere inhaltliche Auseinandersetzung mit Wokeness gehen, da die relevanten Fakten bereits ausreichend in dem hpd-Artikel von Florian Schwarz und in verschiedenen YouTube-Videos von Andreas Edmüller beschrieben worden sind.

Im Vergleich zu anderen pseudowissenschaftlichen Strömungen ist Wokeness nicht institutionalisiert und ist heute eher eine Fremdzuschreibung denn Selbstbezeichnung. Zudem gibt es Leute, die "wokes wording" in ihre Sprachgewohnheiten übernommen haben, ohne tatsächlich woke zu sein, was eine Quantifizierung der Verbreitung der Ideologie ungemein erschwert. In meinem Arbeitsalltag nutzen einige Personen den sogenannten "Glottisschlag" (Sprechpause zwischen der männlichen und weiblichen Form eines Wortes: z.B. "Mitarbeiter_innen") oder sprechen von "alten weißen Männern", wenn Äußerungen von älteren Herren kritisiert werden. Wenn ältere Frauen hingegen unliebsame Dinge erzählen, wird die Schublade der "alten weißen Frauen" in der Regel nicht geöffnet. Auch wenn wokes wording genutzt wird – keine dieser Kolleginnen und Kollegen vertritt tatsächlich wokes Denken, sie haben sich lediglich nie intensiv mit den Grundlagen dieser Konzepte auseinandergesetzt und möchten einfach nur niemandem auf die Füße treten.

Bisher gab es lediglich Spekulationen wie weit Wokeness verbreitet ist, wenngleich es naheliegend zu sein scheint, dass im akademischen Umfeld gesucht werden muss, wo der Postmodernismus und die Critical Studies beheimatet sind. Mittlerweile gibt es mehr Klarheit. Im Folgenden werden drei Studien vorgestellt, die sich dem Konzept und dessen Verbreitung aus unterschiedlichen Richtungen nähern.

Wokeness in Academia

Der finnische Psychologe Dr. Oskari Lahtinen publizierte dieses Jahr (2024) eine Studie, in der er den ersten Wokeness-Fragebogen ("critical social justice attitude scales"; CSJAS) anhand einer finnischen Stichprobe von knapp 6.000 Personen (mehrheitlich Akademiker; ca. 51 Prozent männlich, 44 Prozent weiblich und 5 Prozent sonstige oder keine Angabe) entwickelte und validierte. Der Fragebogen besteht aus sieben Aussagen (Items), die verschiedene Kernüberzeugungen von Wokeness erfassen. Beispiel-Items sind: "Wenn Weiße im Durchschnitt ein höheres Einkommensniveau haben als Schwarze, dann liegt das am Rassismus" oder "Ein Mitglied einer privilegierten Gruppe kann Merkmale oder kulturelle Elemente einer weniger privilegierten Gruppe übernehmen".
Die Items wurden auf einer Skala von 1 bis 4 beantwortet (1 = "stimme nicht zu", 2 = "stimme eher nicht zu", 3 = "stimme eher zu", 4 = "stimme zu"), höhere Werte sprechen für mehr Wokeness. Die statistischen Kennwerte des Fragebogens waren gut, was bedeutet, dass der Fragebogen das misst, was er messen soll. Der Autor berichtet, dass das Woke-Phänomen im Mittel von der gesamten Stichprobe deutlich abgelehnt wird (1,55 – 1,66). Männer lehnen Wokeness nahezu vollständig ab (1,03 – 1,04), während Frauen mehr als doppelt so stark zustimmen (2,13 – 2,18). Personen, die als Geschlecht "anderes" angegeben haben, stimmten deutlich stärker zu (2,71 – 2,74) als beide Geschlechter. Zudem gibt es stärkere Zustimmungen von Leuten, die linke Parteien wählen (Grüne = 2,47; Linke = 2,69) und bei Studentinnen der Sozialwissenschaften (2,54), Bildungswissenschaften (2,17) und Geisteswissenschaften (2,33). Darüber hinaus hängen höhere Wokeness-Werte mit mehr Ängstlichkeit und Depression zusammen.

Die Arbeitsgruppe um Dr. Cory Clark von der Universität Pennsylvania untersuchte 470 amerikanische Professoren der Psychologie (männlich = 57,1 %, weiblich = 39,8 %, nonbinary = 0,5 %, keine Angabe = 2,6 %) und konfrontierte diese mit 10 "Tabu-Statements". Angegeben werden sollte, inwiefern sie diesen zustimmen und diese öffentlich kommunizieren würden (Selbstzensur). Beispiele für diese Tabus sind: "Das biologische Geschlecht ist für die große Mehrheit der Menschen binär" oder "Männer und Frauen haben unterschiedliche psychologische Eigenschaften aufgrund der Evolution". Es konnte gezeigt werden, dass Männer die Tabus eher für wahr halten als Frauen, während Frauen glauben, dass das akademische Umfeld schwarze Menschen diskriminiert. Die Frauen waren politisch linksorientierter und jünger als die Männer. Zudem kam es zu mehr Selbstzensur, je mehr die Tabus für wahr gehalten wurden. Nahezu alle Professoren hatten die Sorge sozial sanktioniert zu werden (Angriffe auf Social Media, soziale Ächtung und Stigmatisierung), wenn sie sich zu ihren eigenen Überzeugungen bekennen würden.

In einer im Oktober 2024 veröffentlichten Untersuchung des Deutschen Zentrums für Hochschul- und Wissenschaftsforschung (DZHW) wurde eine erste repräsentative und deutschlandweite Studie zur Rede- und Meinungsfreiheit an Hochschulen durchgeführt. Befragt wurden mehr als 9.000 Doktoranden, Postdocs und Professoren unterschiedlichster Fachgebiete. Adressiert werden sollte vor allem die "Cancel Culture". In einer ersten allgemeinen Frage sollte eine Einschätzung zur "Autonomie und Freiheit im deutschen Wissenschaftssystem" abgegeben werden. 22 Prozent bewerteten diese als "eher schlecht" oder "sehr schlecht", während 79 Prozent diese als "eher gut" bis "sehr gut" beschrieben. 20 Prozent der Sozial- und Verhaltenswissenschaften, 19 Prozent in den Geisteswissenschaften, 12 Prozent der Natur- und Ingenieurswissenschaftler sowie 10 Prozent in der Medizin geben an, mindestens einmal Forschungsthemen oder –methoden aufgrund befürchteter negativer Folgen für sich selbst vermieden zu haben. Ein Viertel der Befragten haben aufgrund von erwartetem "Druck" durch andere schon mal ihre Forschungspraxis angepasst. 17 Prozent der Geisteswissenschaftler, 13 Prozent der Sozial- und Verhaltenswissenschaftler, 8 Prozent der Mediziner und 5 bis 6 Prozent der Ingenieurs- und Naturwissenschaftler berichteten ihre Lehre angepasst zu haben, da sie negative Folgen für sich selbst befürchteten. In einem konstruierten Streitfall würden 10 Prozent der Uniangehörigen einen Vortrag canceln, der Unterschiede in den Kriminalitätsraten auf "kulturelle Unterschiede" zurückführt, während dies nur 3 Prozent tun würden, wenn Kriminalität auf "rassistische Diskriminierung" durch die Aufnahmekultur zurückgeführt wird. Wenn in einem Vortrag das Geschlecht durch biologische Binarität erklärt wird, würden 5 Prozent den Vortrag canceln wollen, während das niemand tun würde, wenn das Geschlecht auf soziale Konstruktion zurückgeführt wird. Das Fazit der Autoren ist, dass die Einschränkung der Rede- und Meinungsfreiheit (Cancel Culture) kein flächendeckendes Phänomen an deutschen Hochschulen sei, wobei der Report auch zeige, dass es sich bei solchen Einschränkungen nicht nur um Einzelfälle handele.

Schlussfolgerungen

Die drei vorgestellten Studien sind die ersten ihrer Art, die sich systematisch mit woken Konzepten beschäftigen und Einblicke in deren Systematik zulassen. Anhand der ersten Studie konnte gezeigt werden, dass woke Ideen nur von wenigen Menschen geteilt werden und eher bei Frauen und Geschlechtsindifferenten sowie politisch Linken und Studenten der Sozial-, Geistes- und Bildungswissenschaften vorkommt. Die anderen beiden Studien zur Selbstzensur bei Professoren der Psychologie und Cancel Culture legen nahe, dass Wokeness vor allem über ein latentes Bedrohungsszenario (soziale oder berufliche Konsequenzen) wirkt und wahrscheinlich weniger über manifest auftretende Konsequenzen, auch wenn es bekannte Beispiele wie Andreas Edmüller und Susanne Schröter gibt, bei denen das anders war. Offen bleibt, wie eine woke Minderheit so viel akademische und öffentliche Aufmerksamkeit erhalten konnte? Da sich woke Aktivisten aus ihrem Selbstverständnis heraus besonders für soziale Gerechtigkeitsthemen interessieren, wäre es möglich, dass sie systematisch Ämter in Gleichstellungs- und Antidiskriminierungsstellen besetzt haben. Von diesen Stellen aus kann dann erfolgreich Druck auf Hochschulen und Unternehmen ausgeübt werden, denn niemand möchte gerne vorgehalten bekommen, andere zu diskriminieren. Gegenwärtig ist das allerdings noch spekulativ. Interessant wäre daher eine Studie, die den Wokeness-Fragebogen von Gleichstellungs- und Antidiskriminierungsbeauftragten ausfüllen lässt.

Unterstützen Sie uns bei Steady!