Ein Blick hinter die Sozialpolitik der Gegenwart

Jenseits der Fiktion vom Arbeitsverweigerer

Die Bundesregierung hat neue Regelungen zur Grundsicherung beschlossen – flankiert von vertrauten Schlagworten wie Fördern und Fordern, Leistungsgerechtigkeit, Verantwortung und, als zentraler Zielsetzung, mit der Wiederherstellung des Vermittlungsvorrangs. Also Menschen ungeachtet individueller Umstände, koste es was es wolle, in Arbeit zu vermitteln, gleich wie zumutbar, gleich wie prekär, gleich wie nachhaltig.

Begleitet wird das Ganze von der unausgesprochenen Erzählung, es gebe da draußen eine relevante Zahl von Menschen, die einfach "nicht wollen". Doch wer die Praxis kennt, weiß: Diese Erzählung ist eine Fiktion.

Der Leiter des Jobcenters Hamburg hat das im Interview mit dem Tagesspiegel erstaunlich offen angedeutet. Er spricht ruhig, ohne Konfrontation, aber zwischen den Zeilen deutlich: Das Bild des böswilligen Totalverweigerers existiert nicht. Wir wissen das längst auch aus empirischen Untersuchungen. Viele Menschen, die im System der Grundsicherung gelandet und vielleicht schon längerfristig dort feststecken, sind nicht unwillig, sondern erschöpft, krank, überfordert – oder schlicht von Strukturen überrollt, die kaum jemand mehr überblickt.

Die Drei-Stunden-Fiktion

Besonders bemerkenswert ist die Kritik des Jobcenter-Chefs an der willkürlichen Grenze, die das Sozialrecht zwischen "erwerbsfähig" und "nicht erwerbsfähig" zieht – drei Stunden tägliche Arbeitsfähigkeit.

Wer drei Stunden am Tag durchhält, gilt statistisch als arbeitsfähig und gehört damit in die Arbeitsvermittlung. Aber, so sagt er sinngemäß, niemand mit einer Arbeitsfähigkeit von drei Stunden täglich steht dem Arbeitsmarkt im eigentlichen Sinne zur Verfügung. Demzufolge gehören sie nicht drangsaliert, sondern im Bereich der Grundsicherung für nicht Erwerbsfähige betreut und versorgt.

Das ist, wenn man es genau liest, eine stille Demontage der politischen Erzählung: Der Mythos vom faulen Arbeitsverweigerer verdeckt, dass die Strukturen selbst menschenfern geworden sind. Man will Systeme steuern, aber keine Wirklichkeiten anerkennen.

Und was heißt das überhaupt, drei Stunden täglich arbeitsfähig? Man muss nur an Menschen mit ME/CFS, Long Covid oder psychischen Erkrankungen denken, die hoch volatilen Krankheitsverläufen ausgesetzt sind. An guten Tagen gelingt vieles – an anderen geht gar nichts.

Wie soll ein System, das in täglichen Stunden und Nachweisen denkt, solche Realitäten abbilden? Das System hat keinen Platz für Schwankungen, keine Sprache für Unplanbarkeit. Entweder – oder, das ist auch die Sprache der allfälligen Gutachten.

Die stillen Opfer der Systemlogik

Der Hamburger Jobcenterleiter deutet mit ruhiger Präzision an, was viele längst wissen: Die Härte im System zielt auf den falschen Punkt. Nicht die "Verweigerer" sind das Problem – sie existieren kaum –, sondern die Überforderung derjenigen, die eigentlich Hilfe bräuchten. Hilfe im Sinne von Fürsorge, nicht im Sinne eines "Vermittlungsvorranges".

Wer in prekären oder gesundheitlich instabilen Lebenslagen lebt, erlebt das Jobcenter selten als Partner, sondern als Prüfungsinstanz. Und so entsteht das Paradox: Je schwächer ein Mensch wird, desto stärker greift die Kontrolle. Aus Fordern wird Zwang, aus Fördern wird Bürokratie.

Humanismus als verlorenes Betriebssystem

Wenn man diesen Befund ernst nimmt, dann weiß man: Es geht längst nicht mehr um Sozialrecht, sondern um ein Menschenbild. Eine Gesellschaft, die Hilfesysteme nach dem Modell von Misstrauen und Sanktion aufbaut, verliert ihren humanistischen Kern. Denn Humanismus beginnt dort, wo man den anderen nicht nach seiner Verwertbarkeit beurteilt.

Was heute Sozialpolitik genannt wird, mutiert nach zwei Jahren halbherzigem "Bürgergeld" gerade wieder zu einem Überwachungsinstrument mit moralischem Anstrich. Und vielleicht ist das der stillste, aber deutlichste Appell des Hamburger Jobcenterleiters:

Nicht die Menschen müssen sich ändern – das System muss seine Menschlichkeit zurückgewinnen.

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