Das Bürgergeld – erst vor zwei Jahren als menschenwürdigere Alternative zu Hartz IV eingeführt – ist erneut ins Zentrum öffentlicher Debatten geraten. Doch wer sich die Tonlage dieser Debatten anhört, erkennt schnell: Es geht selten um eine nüchterne Betrachtung sozialer Realität. Viel häufiger geht es um Schuldzuweisungen, Generalverdacht und eine Erzählung, die sich tief eingebrannt hat: Wer Bürgergeld bezieht, steht dem Arbeitsmarkt mutmaßlich "nicht zur Verfügung", will nicht arbeiten, lebt auf Kosten anderer – kurzum: Gehört zu einer Gruppe, die verdächtig und potenziell schädlich ist.
Dabei zeigt die neue Studie des Vereins Sanktionsfrei ein ganz anderes Bild: 72 Prozent der befragten Bürgergeldempfänger:innen geben an, dass der Regelsatz nicht ausreicht, um ein würdiges Leben zu führen. Die Hälfte sagt, nicht einmal regelmäßig satt zu werden – viele Eltern verzichten zugunsten ihrer Kinder auf Essen. 42 Prozent schämen sich für den Leistungsbezug. Und: Die allermeisten möchten arbeiten, finden aber keine existenzsichernde Arbeit.
Diese Zahlen offenbaren nicht nur soziale Not. Sie entlarven auch ein doppeltes Versagen der politischen Klasse: Erstens, weil eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den strukturellen Ursachen von Armut verweigert wird. Zweitens, weil die Erzählung vom "sozialen Missbrauch" gezielt zur Disziplinierung benutzt wird – in einer Gesellschaft, die lieber an der Vorstellung festhält, dass Leistungsgerechtigkeit bereits verwirklicht sei. Durch eine moralische Bewertung im beinahe calvinistischen Sinne: Armut bedeutet persönliche Schuld, die zu sanktionieren ist, Reichtum eine Art Gottesgnadentum, das auch auf Erden belohnt werden muss.
Nimmt man aber einmal die Menschenwürde und das Sozialstaatsgebot (tatsächlich finden sich beide im Grundgesetz) ernst, so müsste es ein Bürgergeld mit einer reinen Bedürftigkeitsprüfung, aber ohne weitere Erschwernisse geben. Einen Bodensatz von unberechtigten Nutznießern muss man hinnehmen – das geschieht überall, in allen sozialen Bereichen. Aber leider war man sehr erfolgreich darin, die mittleren gegen die unteren und die unteren gegen die untersten Bevölkerungsschichten aufzubringen, sodass für einen solchen Gedanken offenbar kein Raum mehr ist.
Dass es überhaupt eine so große Zahl Bedürftiger gibt, ist dabei durchaus keine Naturgewalt. Es ist das Ergebnis politischer Entscheidungen: von Jahrzehnten neoliberaler Deregulierung, von "Arbeitsmarktreformen" auf dem Rücken der Schwächsten, einem immer mehr schwindenden Anteil des Faktors Arbeit an der Produktivität und einer Wohnungspolitik, die sich dem Markt ausgeliefert hat. Wer diese Zusammenhänge ignoriert, macht sich mitschuldig. Und wer dennoch auf Bedürftige eindrischt, hat jeden moralischen Kompass verloren.
Die politische Sprache hat sich daran längst gewöhnt. Wenn CDU-Politiker aus der ersten Reihe gegen Bürgergeldempfänger austeilen, ist das kein Ausrutscher, sondern kalkulierte Rhetorik – und leider auch anschlussfähig. Selbst in Teilen der SPD wird diese Linie mitgetragen. Dass sich kaum jemand dagegen auflehnt, ist vielleicht das Beunruhigendste: Die Verachtung der Armen ist zur gesellschaftlichen Beinahe-Normalität geworden. Talkshow sei Dank.
Tatsächlich hat sich der ganze Debattenkontext als Reflex verfestigt. Wenn es einmal – wie vor einiger Zeit bei "Hart aber Fair" – zu einer pointierten Gegenrede eines Betroffenen kommt oder "Die Anstalt" all das einmal mehr in seine Einzelteile zerlegt, dann sieht man das als ein Kuriosum – der Nichtbetroffene schmunzelt und pflegt seine Vorurteile weiter.
Ein zentrales Dogma dieser Rhetorik ist das sogenannte Lohnabstandsgebot – ein Begriff, der suggeriert, man müsse Sozialleistungen drücken, damit Arbeit sich "wieder lohnt". Doch diese Logik ist perfide: Sie schützt keine Arbeit, sondern hält den Druck auf Erwerbslose hoch. Es ist ein top-down-Mechanismus zur sozialen Disziplinierung, der die unteren gegen die ganz unten ausspielt – und dabei von der Verantwortung der oben ablenkt. Dabei sind wir trotz Mindestlohn bereits in einer Situation, in der unter Umständen selbst eine Vollzeitbeschäftigung keine Garantie ist, den Lebensunterhalt der Familie bestreiten zu können.
Grundlegender Perspektivwechsel nötig
Was fehlt, ist ein grundlegender Perspektivwechsel. Das Existenzminimum darf kein Spielball politischer Taktik sein. Wer das Sozialstaatsversprechen des Grundgesetzes ernst nimmt, muss anerkennen: Es braucht ein Bürgergeld, das Armut wirklich verhindert. Es braucht eine Bedürftigkeitsprüfung, aber keine Misstrauenslogik. Und es braucht Politikerinnen und Politiker, die nicht Stimmung machen, sondern Verantwortung übernehmen.
Ein Staat, der das nicht leistet, verspielt nicht nur seine Glaubwürdigkeit. Er verrät auch den Humanismus, den er so gern beschwört.
Die Rückkehr zu einer sozialstaatlichen Haltung, die nicht verachtet, die nicht ausgrenzt, die nicht zynisch agiert und die die Menschenwürde nicht nur deklamiert, sondern strukturell sichert, ist überfällig. Die Orientierung am Grundgesetz – Artikel 1 und Artikel 20 – gebietet, dass wir Armut nicht moralisch bewerten, sondern politisch bekämpfen.
Das Bürgergeld ist keine Gnade. Es ist ein rechtlicher und ethischer Anspruch. Wer das in Zweifel zieht, zweifelt an der Idee einer solidarischen Demokratie.
Ein humanistisches Postulat
Der Humanismus stellt den Menschen in den Mittelpunkt – nicht als leere Formel, sondern als praktische Verpflichtung. Das bedeutet: Schutz vor Entwürdigung. Freiheit zur Lebensgestaltung. Und soziale Sicherheit, auch wenn Erwerbsarbeit vorübergehend oder dauerhaft nicht möglich ist.
Die Rede von der "Würde des Menschen" ist keine romantische Idee. Sie ist ein Prüfstein für das Selbstverständnis einer Gesellschaft. Wer bereit ist, Menschen in Armut öffentlich zu beschämen, sie unter Generalverdacht zu stellen oder politische Karrieren auf Kosten der Schwächsten zu inszenieren, der verspielt mehr als nur Anstand. Er untergräbt das Vertrauen in die Demokratie selbst.
Deshalb ist das Bürgergeld mehr als eine Sozialleistung und erst recht keine Sozialromantik. Es ist – oder sollte es sein – Ausdruck eines humanistischen Grundkonsenses. Ihn zu bewahren und neu zu beleben ist keine Frage politischer Zugehörigkeit. Es ist eine Frage der Menschlichkeit.






