GIEßEN. (hpd Wer kennt das Gefühl nicht: Irgendetwas in mir sagt mir, dass ich gerade nicht korrekt behandelt wurde. Bereits die kleinen, alltäglichen Demütigungen sind körperlich zu spüren, größere hinterlassen oft sogar tiefe Wunden. In solchen Situationen, so Franz Josef Wetz, rebelliert unsere Selbstachtung, sie hält uns dazu an, uns zu wehren.
In seinem neuen Buch befasst sich der Philosoph mit diesem Aufstand gegen Demütigung, versucht zu klären, was Selbstachtung überhaupt ist, wo ihr Nutzen für uns Menschen liegt und wo sie an Grenzen stößt. hpd sprach mit dem Autor über die Begründung von Würde, Selbstzweifler und die Rebellion der Selbstachtung.
hpd: Sie grenzen “Selbstachtung” vom herkömmlichen Begriff der Menschenwürde ab. Welche Vorteile bringt das?
Franz Josef Wetz: Nach traditioneller Auffassung ist der Mensch ein Ebenbild Gottes oder ein aus der Natur herausragendes Vernunftwesen, das als solches einen Wert an sich darstellen soll. Diese Position halte ich aus verschiedenen Gründen für unhaltbar, ohne deshalb die vage Idee der Würde gänzlich verwerfen zu wollen.
Wenn amnesty international im Namen der Menschenwürde gegen Folter aufbegehrt, hat das einen guten Sinn. Aber Würde ist für mich nichts, das es einfach so gibt, sondern etwas, das überhaupt erst hergestellt werden muss: keine metaphysische Vorgabe, sondern eine ethische Aufgabe. Sie hängt davon ab, ob Menschen satt zu essen haben, ihr Leben nach eigenen Vorstellungen führen können und ähnlichem Anderen. Die Summe von alledem ergibt aber noch nicht Würde, sondern eben lediglich Freiheit, Versorgung, Humanität.
Der Begriff Würde verflüchtigte sich, wenn diese nicht noch etwas Spezifisches bedeuten würde. Was Freiheit, Versorgung, Humanität und Ähnliches aber gewährleisten können, ist Selbstachtung. Diese kommt ohne abstrakte Metaphysik, ohne höhere Wesensbegriffe wie Gottebenbildlichkeit oder Vernunftfähigkeit aus, die aus meiner Sicht nicht verallgemeinerbar, ja illusionär sind.
Im Buch wird gezeigt, dass Selbstachtung ein unserer liberalen und säkularen Gesellschaft angemessenes Verständnis von Würde bietet. Sie steht für den persönlichen, politischen, rechtlichen, ökonomischen Auftrag, allenthalben Verhältnisse zu schaffen, unter denen es dem Einzelnen möglich ist, sich selbst wertschätzen zu können.
Sie schreiben, die Bezugswissenschaft für die Ergründung der “elementaren Selbstachtung” sei weder Theologie noch Soziologie, sondern die Biologie. Warum?
Die Theologie bezieht die Selbstachtung auf die Gottebenbildlichkeit: Der Mensch habe als herausragendes Geschöpf Gottes einen guten Grund, sich zu achten. Alle religiöse Positionen werden aber im Buch verworfen. Die Soziologen versuchen dagegen die Selbstachtung auf soziale Anerkennung zurückzuführen. Natürlich spielt gegenseitige Wertschätzung für die eigene Selbstachtung eine wesentliche Rolle. Dennoch liegt hier nicht der Ursprung der Selbstachtung. Sie ist nicht nur ein soziales Artefakt, sondern bereits keimhaft im – biologisch entschlüsselten – Selbsterhaltungsstreben des Menschen angelegt.
Worin unterscheidet sich Selbstachtung von zum Beispiel “Resilienz”?
Da gibt es in der Tat große Überschneidungen. Resilienz steht für die Fähigkeit, Belastungen im Privaten und in der Arbeitswelt, auch Lebenskrisen, Verluste, Krankheiten und andere existenzielle Herausforderungen ohne Gefährdung der eigenen Gesundheit meistern zu können. Der Gegenbegriff hierzu ist “Vulnerabilität”: Verletzbarkeit.
Selbstachtung kann eine wichtige Voraussetzung für Resilienz sein. Wie ein intaktes Immunsystem vermag Selbstachtung die psychische Widerstandskraft im Umgang mit den Widrigkeiten des Lebens zu fördern, wie umgekehrt Resilienz der Selbstachtung förderlich ist. Hier herrscht eine fragile Wechselbeziehung. Nur wer vom Wert der eigenen Existenz überzeugt ist, zeigt sich dem Leben gewachsen.
Die Forschungsergebnisse vor allem der Naturwissenschaften legen nahe, dass wir Menschen objektiv völlig unbedeutend sind. Wie kann es dann gelingen, uns subjektiv als erheblich anzusehen?
Mag das Leben aus der wissenschaftlichen Außenperspektive auch als nichtig erscheinen, aus unserer jeweiligen Innenperspektive ist doch nichts wichtiger als das eigene Leben. An sich ist der Mensch höchstwahrscheinlich bedeutungslos, für sich jedoch bleibt er bedeutsam, auch als kosmisches “Nichts” ein “Jemand”, der nicht als bloßes “Etwas” betrachtet und behandelt werden möchte, sondern sich selbst ernst nimmt und auch von den anderen ernst genommen werden möchte.
Selbstachtung ist ein existenzielles Schutzschild des Menschen in seinem Aufstand gegen die bedrohliche Gleichgültigkeit und Rücksichtslosigkeit der Welt seinen Wünschen und Interessen gegenüber. Es gibt keine Regel, die logisch ausschließt und ethisch verbietet, dass kosmisch bedeutungslose Lebewesen ihr Dasein für wertvoll halten und gesellschaftliche Rahmenbedingungen zur Aufrechterhaltung ihrer Selbstachtung schaffen, die zum Überleben unverzichtbar ist.
Nun beschreiben Sie in ihrem Buch auch den Typus des Selbstzweiflers. Warum vermögen diese Menschen den Wert der eigenen Person nicht zu spüren? Welche Voraussetzungen für Selbstachtung sind bei ihnen nicht gegeben?
Die mit dem Selbsterhaltungsstreben gleichursprüngliche Selbstachtung bleibt immer brüchig, weil zum menschlichen Dasein von vornherein auch ein Bewusstsein eigener Unzulänglichkeit gehört. Dieses ist mehr oder weniger stark ausgeprägt und hängt von vielerlei Faktoren ab, worauf ich im Buch näher eingehe.
Manche Menschen sind vom Typ her schon sehr verletzlich und selbstkritisch. Sie trauen sich nichts zu, weil sie gleichsam von Natur ein schwaches Selbstwertgefühl besitzen. Wenn überdies noch Kritik oder Versagen dazukommt, kann die Selbstachtung leicht beschädigt werden.
Mit Vorliebe wird gerade an schwachen Mitbürgern das Fehlerhafte und Abweichende aufgespürt. Man wittert ihre Andersartigkeit wie den Schimmel auf dem Brot, noch bevor er aufgetreten ist. Die Zahl der gedankenlosen Menschen ist groß. Die Einstellung der sozialen Umwelt uns gegenüber beeinflusst die eigene Wertschätzung sehr: Lob, Liebe, Freundschaft, Anerkennung für erbrachte Leistungen und besondere Eigenschaften sind der Selbstachtung zuträglich; wo sie ausbleiben, wächst der Selbstzweifel leicht, aber nicht in jedem Falle.
Kann Selbstachtung überhaupt weiter bestehen, wenn die soziale Umwelt jegliche Wertschätzung verweigert?
Es ist nahezu unmöglich, Entrechtung, Schändung und Entmenschlichung nicht als Demütigungen zu erleben. Trotzdem gibt es Virtuosen der Selbstachtung, die sogar unter den widrigsten Umständen ihr Gefühl für den eigenen Wert behalten. Diese können sich weiter wertschätzen, weil sie die unmenschliche Außenperspektive nicht in ihre Innenperspektive übernehmen.
Im Buch wird der Frage nachgegangen, woher die Kraft hierzu kommt. Natürlich aber sind nicht alle Menschen dazu imstande. Im normalen Alltag können schon abfällige Redensarten dem Einzelnen etwas anhaben. Deshalb darf es nicht verwundern, wenn in brutalen Grenzsituationen unsere Selbstachtung gefühlter Erbärmlichkeit weicht.
Bewegt sich die “Rebellion der Selbstachtung” nur auf der persönlichen Ebene oder hat sie auch eine politische Komponente?
Selbstverständlich hat sie eine politische Komponente, die in mehreren Kapiteln des Buches beleuchtet wird. Weltweit begehren Menschen gegen Bevormundung und Verelendung auf. In kollektiven Aktionen, häufig übers Internet organisiert, empören sich die Betroffenen über Unterdrückung und Armut.
Denken Sie nur etwa an den arabischen Frühling. Im Jahre 2013 wiederum wurden wir Augenzeugen einer Rebellion der Selbstachtung in der Türkei, 2014 beispielsweise in Ferguson, USA. Die Aufstände richten sich oftmals gegen autoritäre Staatsführer, machtbesessene Diktatoren, transnationale Unternehmen, dürftige Lebensverhältnisse, Korruption und Unterdrückung. Bei näherem Hinsehen wird deutlich, dass hier eine beschädigte Selbstachtung revoltiert. Liberale Freiheitsrechte, politische Teilhaberechte und soziale Wohlfahrtsrechte geben nun einmal wichtige Hilfestellungen bei dem Versuch, sich selbst wertzuschätzen.
Zu alledem bedarf es nur wenig Fantasie, um sich speziell hierzulande die Abhängigkeit von der öffentlichen Hand ohne oder sogar trotz Arbeit als demütigend vorzustellen. Andererseits kann der Rechtsanspruch auf Grundsicherung die Selbstachtung stärken.
Verständlicherweise wird auch das Selbstwertgefühl von Leiharbeitern bei uns spürbar beeinträchtigt, die bekanntlich Festangestellten gegenüber schlechter bezahlt werden. Und wenn die Betroffenen dies nicht als demütigend empfinden, so hätten sie doch einen guten Grund dazu. Hiermit verhält es sich ähnlich wie mit den Musliminnen, die ihre Burka nicht als Benachteiligung und Verletzung ihrer Selbstachtung wahrnehmen, weil sie auf raffinierte Weise dazu verführt wurden, ihre Ungleichstellung den Männern gegenüber als normal und natürlich zu empfinden. So gelang es den Ordnungsmächten, die Frauen unmerklich zu Komplizen ihrer Unterdrücker zu machen.
Diese und andere Beispiele aus dem politischen Bereich werfen die schwierige Frage auf, wann es überhaupt gerechtfertigt ist, sich in seiner Selbstachtung getroffen zu fühlen und wann nicht. Aus der Tatsache, dass man sich achtet, folgt nicht automatisch, dass man – ethisch gesehen – auch schon einen guten Grund hat, sich zu achten. Vielleicht wäre es sogar angebracht, sich beleidigt zu fühlen oder zu schämen. Diese normative Frage ist wichtig, und sie wird im Buch ausführlich behandelt.
In Deutschland ist eine “Rebellion der Selbstachtung” in den letzten 20 Jahren kaum noch zu registrieren. Mangelt es der Mehrheit der hier lebenden Bevölkerung an Selbstachtung?
Im Grunde genommen achten wir uns immer schon. Dies wird nirgendwo eindrücklicher erfahrbar als in der Grenzsituation einer Verletzung unserer Selbstachtung.
Obwohl man die eigene Selbstachtung noch nie zuvor verspürte, fühlt man sich plötzlich durch herablassende Gesten, hämischen Spott, üble Beschimpfung oder dümmliche Bloßstellung in seiner Selbstachtung getroffen, was ja nur möglich ist, wenn man sich zuvor schon in irgendeiner Form achtete. Dass es hierzulande in den letzten Jahrzehnten zu keiner Revolte der Selbstachtung gekommen ist, beruht möglicherweise auf der schlichten Tatsache, dass es der breiten Bevölkerung, die sogenannten einfachen Leute eingeschlossen, verhältnismäßig gut geht und die sozialstaatlichen Leistungen vergleichsweise hoch sind. Allerdings könnte es auch damit zusammenhängen, dass der Alltag der meisten Bürger, die berechtigten Grund zur Rebellion der Selbstachtung hätten, so viel Kraft beansprucht, dass ihnen nicht mehr genug Energie hierzu bleibt.
Die Fragen stellte Martin Bauer.
Franz Josef Wetz: Rebellion der Selbstachtung. Gegen Demütigung. Aschaffenburg: Alibri, 2014. 197 Seiten, Klappenbroschur, Euro 16.-, ISBN 978–3–86569–177–4
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