(hpd) Der Theologe Friedrich Wilhelm Graf spricht in seinem Buch von den sieben Kardinal-Untugenden der Kirchen: Sprachlosigkeit, Bildungsferne, Moralismus, Demokratievergessenheit, Selbstherrlichkeit, Zukunftsverweigerung und Sozialpaternalismus. Auch wenn es sich dabei nur um eine Sammlung von Essays handelt, verdient diese interne Kritik Beachtung, auch und gerade hinsichtlich solcher Aspekte wie der konstatierten mangelnden Bereitschaft der Kirchen zur Akzeptanz der Normen und Regeln des demokratischen Diskurses.
Eine Kritik an den Kirchen kann aus unterschiedlichen Perspektiven - von grundsätzlicher Ablehnung bis zu internen Reformforderungen - motiviert sein. Für die letztgenannte Position steht Friedrich Wilhelm Graf, der als Professor für Systematische Theologie und Ethik an der Universität München lehrt und durch Beiträge in den Feuilletons der Qualitätspresse einem größeren Publikum bekannt geworden ist. Einige seiner zuvor separat publizierten Texte hat er nun zu einem Buch mit dem Titel „Kirchendämmerung. Wie die Kirchen unser Vertrauen verspielen“ umgearbeitet. Darin beschreibt Graf seine Position als die individuelle Sicht „eines liberalen protestantischen Theologen, der in seiner Denkarbeit stark geprägt ist von Kantischem Republikanismus, freier Theologie des sogenannten liberalen Kulturprotestantismus und unfanatischem Denkglauben“ (S. 29). Aus dieser Sicht heraus konstatiert er eine grundsätzliche Legitimationskrise der Kirchen, die unabhängig von den Missbrauchsskandalen bestehe und zunehme.
Graf kleidet seine Analyse und Kritik in das Konstatieren von sieben „Kardinal-Untugenden“ der Kirchen: erstens die verquaste Sprache der Theologen, zweitens den selbstgerechten Moralismus der Funktionäre, drittens die Bildungsferne der Gottesdienste, viertens die Demokratievergessenheit politischer Interventionen, fünftens die weltfremde Selbstherrlichkeit der Würdenträger, sechstens den Abschied von einem pluralistischen Christentum sowie siebtens den Sozialpaternalismus kirchlicher Sozialmanager. Als Gesamteinschätzung formuliert der Autor dann auch in folgenden harschen Worten: „Die deutschen Kirchen sind stark vermachtete und verfilzte Organisationen mit viel Pfründenwirtschaft zur Alimentierung von Funktonären, die gern unter sich bleiben und miteinander in einem verquasten Stammesidiom kommunizieren, das für Außenstehende unverständlich bleibt – der ideale Nährboden für Schweigekartelle und Wagenburgmentalität. In ihnen gibt es erschreckend viel Informalität und Klientelismus“ (S. 22).
Graf sieht durch den damit einhergehenden Ansehens- und Mitgliederverlust eine Gefahr für die Stabilität einer freiheitlichen Bürgergesellschaft, wenn ihre religiösen Institutionen und Organisationen und Werte erodieren. Den in den Kirchen Verantwortlichen will er zeigen, „dass sie mit ihren ‚Untugenden’ die sieben Kardinaltugenden der antiken humanistischen und christlichen Tradition – Vernunft, Tapferkeit, Gerechtigkeit, Mäßigung sowie Glaube, Hoffnung und Liebe missachten“ (S. 27). In den darauf bezogenen Kapiteln von „Kirchendämmerung“ werden dafür Beispiele angeführt. Graf hebt auch hervor, dass es hinsichtlich bestimmter politischer Werte dort noch grundlegende Defizite gibt: „Zur Idee des demokratischen politischen Diskurses passt es nicht, wenn einzelne Akteure ... für ihre öffentlichen Sprechakte den Anspruch erheben, man dürfe sie nicht kritisieren. Offenkundig haben einige prominente kirchliche Sprecher noch immer erhebliche Schwierigkeiten damit, die Spielregeln des freien demokratischen Diskurses zu akzeptieren“ (S. 87).
Graf hat in seiner „Kirchendämmerung“ kleinere Essays, die er in den letzten Jahren bereits an anderen Orten veröffentlicht hatte, zu einem eigenen Buchtext zusammengestellt. Dies erklärt zum einen, dass sich die Ausführungen essayistisch und feuilletonistisch lesen. Differenzierte Begründungen und genaue Belege fehlen. Außerdem erklärt dies zum anderen, dass nicht alle früheren „Textbausteine“ auch zum jeweiligen Kapitelthema passen. Die angeblich neue Sehnsucht nach Gemeinschaft hat unter der Überschrift „Zukunftsverweigerung“ so direkt eigentlich nicht viel zu suchen. Trotz dieser formalen Mängel verdient das Buch als Sammlung von kirchenkritischen Aussagen Grafs Interesse. Es macht dabei deutlich, dass bestimmte Einwände etwa zu dem Thema der „Demokratievergessenheit“ nicht nur dem Bedenken angeblich „böswilliger Religionsfeinde“ entspringen. Dabei hatte Graf das absonderliche Rechtsstaatsverständnis mancher Kirchenfunktionäre während der Missbrauchsskandale noch nicht einmal thematisiert.
Armin Pfahl-Traughber
Friedrich Wilhelm Graf, Kirchedämmerung. Wie die Kirchen unser Vertrauen verspielen, München 2011 (C. H. Beck-Verlag), 192 S., 10,95 €