Warum wird im Namen Gottes gefoltert?

Haben Sie Söhne?

Nein. Es ist auch nicht glaubwürdig, wenn ich darüber nachdenken würde, ob ich Söhne beschnitten hätte. Wenn, dann würde ich darüber nachdenken, ob man sie nicht früher, als ich beschnitten wurde, beschneiden sollte. Mein Bruder wurde im Alter von sechs Monaten beschnitten. Er hat ganz sicher andere oder keine Erinnerungen daran als ich.

 

Wenn Sie sagen, dass die Debatte innerhalb der muslimischen und jüdischen Gemeinden jetzt begonnen hat, was sind denn dabei die wichtigsten Aspekte? Spielt es dabei eine Rolle, dass es vielleicht doch eine Körperverletzung ist?

Jetzt haben die beiden verfeindeten Religionen entdeckt, dass sie Gemeinsamkeiten haben: das Verbot von Schweinefleisch, das Kopftuch, die Heirat von mehreren Frauen (wie bei den Orthodoxen Juden) und eben auch die Beschneidung.

Was ist die Vorhaut? Die Leute haben immer gedacht: das ist ein Lederstück. Das kann man abschneiden. Da haben Rabbis und Imame gleich gedacht. Es ist Teil der unhinterfragten Kultur. Selbst Leute wie der türkische Schriftsteller Semiglou haben gesagt: Deutschland macht sich lächerlich mit der Diskussion. Das haben auch Leute gesagt, die meinen Artikel gelesen haben: Du wirst Schwierigkeiten bekommen. Aber nein! Es ist die Wahrheit. Warum soll man diese Wahrheit verschleiern?

Es hat auch eine Debatte begonnen innerhalb des Judentums. Wenn man sagt: der achte Tag ist der letztmögliche, dann fragt man sich doch: Warum gibt es Ausnahmen, und wer hat diese Ausnahmen festgelegt? Und zweitens: Warum gilt Isaaks Beschneidung als Vorgabe und nicht Abrahams, der erst mit 99 beschnitten wurde. Wenn wir nun eine gesetzliche Regelung in Deutschland machen: warum sollen wir dort 14 Jahre festschreiben? Warum nicht neunundneunzig?

 

Oder alles zwischen 14 und 99…

Nun ja, mit 99 gibt es da keine Haut mehr. Das ist ein abgefucktes Stück Leder. Damit hätte sich alles erledigt. Man hätte alle Freiheit bis 99. Wichtig ist aber einzig, dass diese Diskussion begonnen hat.

 

Sie waren – soweit ich weiß – auch mehrmals in Israel. Wissen Sie, ob es dort Diskussionen zum Thema gibt?

Nein, das ist zu lange her.

 

Es soll in Nordisrael ja einmal eine Initiative gegeben haben, die sich erfolglos bis zum Obersten Gericht geklagt hat gegen die Beschneidung.

Wenn das im Norden ist, kann vielleicht es mit dem Kibbuz Mizra zusammenhängen? Das ist auch der einzige Ort in Israel, wo man Schweinefleisch isst. Ich habe darüber geschrieben, dass die Schweine mehr für den Frieden geleistet haben, als alle Politiker auf beiden Seiten.

 

Was das Judentum angeht gibt es wohl auch eine Entwicklung, dass die Beschneidung als symbolischer Akt vorgenommen wird.

Ich denke, das wird auch im Bundestag diskutiert werden. Aber Symbolik wird interpretiert werden.

Es gibt ja auch die Frauenbeschneidung in vor allem afrikanischen Ländern. Oder in den Golfländern: wie eine Freundin mir offenbarte, wird dort auch eine eher symbolische Beschneidung praktiziert. Aber in Afrika z.B und je weiter man in den Süden kommt, dort geht es bis zur Verstümmelung. Interessant daran ist ja, dass in Ägypten selbst Christen die Mädchen beschneiden lassen.

 

Das ist ja auch älter als die Religionen. Eher eine überlieferte Kulturfrage.

Ja, und ähnlich verhält es sich ja mit der Vorhautbescheidung. In Deutschland muss man daher einen Ausgleich zwischen Ethik und Ritualen finden.

 

Sie nennen die eigene Beschneidung in Ihrem Artikel ja „Folterung“. Werden solche Aspekte denn innerhalb der muslimischen Gruppen diskutiert?

Nein, es wird keiner so zuspitzen und es Folterung nennen. Vielleicht, weil man Folter nicht erlebt hat. Ich habe unter Saddam Hussein Folter erlebt und weiß also, wovon ich rede.

Wenn jemand in meinem Alter, ohne Betäubung, wenn die Haut zugewachsen und ausgewachsen ist – nicht wie die Vorhaut eines acht Tage alten Kindes – beschnitten wird, dann ist das Folter. Ich habe kürzlich erfahren, dass acht Tage alten jüdische Jungen eine Narkose bekommen. Das ist doch gefährlich, wenn es sich hier sogar um eine Art Droge handelte! Ich habe keine bekommen und der christliche Arzt Dr. Sûrîn Salîbâ, der mich beschnitt, sagte später, dass eine Betäubung meine Sexualität beeinträchtigt hätte.

 

Es wird ja bei der Beschneidung ein großes Fest gefeiert. Es gilt als Initiationsritus. Meinen Sie, dass damit die Jungs von den Schmerzen abgelenkt werden sollen?

Ja, es ist wie Kommunion: eine Art Aufnahme in die Community. Diese großen Feiern gibt es nur in der Türkei, im Irak nicht.

Die Jungen sitzen aber auf einer Art Thron, sie sind bekleidet mit der Dischdascha – einer Art Kleid – wie ein Engel sitzen sie da. Mit einem bisschen Blut auf dem Gewand. Es wird Musik gemacht, getrunken (aber natürlich kein Alkohol) – so war es früher.

Das Kind darf keinen Schmerz zeigen und weinen…

 

Aber sie haben geweint und geschrien…

Ja, die anderen Kinder haben vielleicht auch geschrien und geweint, als sie allein waren. Aber nicht, wenn die anderen dabei sind. Es gibt nicht viele Kinder, die allein in einer Arztpraxis beschnitten werden. Ich bin die Ausnahme.

Wenn zehn Kinder einen Luftballon haben und einem fliegt der Ballon fort: dann weint das Kind, Wenn aber alle zehn die Ballons fliegen lassen, dann lacht es. Deshalb hat man die Beschneidungen immer zusammen gemacht; also meistens Brüder zusammen beschnitten, damit sie den Schmerz nicht herausschreien, sondern das feiern.

Mein Vater hat keine Feier gemacht. Es gab Nachblutungen und ich hatte Fieber und mein Vater wusste, dass ich anders bin und nicht glücklich.

Ich erinnere mich an den Tag nach meiner Beschneidung: ein Junge, der mit mir in der Schule war, wurde auch beschnitten. Als ich ihn fragte, ob es ihm weh getan hätte, griff der Vater den Freund an den Arm und drückte leicht zu. ‚Nein‘ sagte der Freund, ‚es war schön.‘ Danach konnte ich nicht mehr mit ihm befreundet sein, weil ich wusste, dass er gelogen hatte.

 

Sie sagen, dass ihr Vater erkannt hat, dass Sie sensibel waren und die Beschneidung für sie kein zu feierndes Fest. Wäre es denn möglich gewesen, dass er oder gar Sie die Beschneidung abgelehnt hätten?

Das kam nicht in Frage. Wie hätte sein Sohn heiraten können? Das gehört einfach zur Gemeinde. Man denkt darüber einfach nicht nach. Es ist eine Selbstverständlichkeit wie dass Freitag Feiertag ist.

 

Ich komme darauf, weil ich las, dass etwas 20 bis 30 Prozent der jüdischen Eltern ihre Söhne eigentlich nicht mehr beschneiden wollen. Dass aber der Druck der Gemeinschaft viel zu hoch ist, es doch zu tun.

Ja natürlich. Es ist überhaupt nicht vorstellbar, sich als Eltern oder gar als Kind dagegen zu entscheiden. Das geht nicht, weil es Tradition ist. Man denkt darüber nicht nach. Es ist normal und gehört einfach dazu.

Nein, ich wusste ja auch immer, dass ich beschnitten werde. Nur nicht wann. Aber es gab nie Zweifel am „das“. Es war einfach selbstverständlich.

Wenn nun Deutschland ein Gesetz machen würde, das die Beschneidung verbietet, müsste auch die Kommunion abgeschafft werden, der Religionsunterricht und die Kreuze in den Klassenräumen.

 

Generell stimmen wir darin ja überein. Aber der Unterschied ist doch der, dass die Kommunion oder der Religionsunterricht keine körperlichen Schäden hinterlässt.

Ja, aber geistige. Und ich bin Intellektueller: für mich ist der Geist genauso wichtig wie der Körper. Warum entscheiden christliche Eltern, dass ihr Kind getauft wird? Mit welchem Recht schicken sie diese zur Kommunion und Konfirmation und was es da alles gibt?

Es ist unvorstellbar, dass ein Kind in diesen Dingen seinen Eltern widerspricht.

 

Man kommt nicht aus seinem Kulturraum heraus.

Ja eben! Und daher kommt die Begründung – egal ob bei Körperverletzung oder Gehirnwäsche: Eltern sollten das nicht bestimmen dürfen.