Camp 14

Flucht aus Camp 14

Nachdem Shin von dem neu internierten Häftling Park Yong Chul erfuhr, dass es eine Welt außerhalb von Camp 14 gibt und das diese anders funktioniert als das Leben im Lager, reift nach einer Weile der Gedanke an Flucht in ihm heran. Er möchte wenigstens einmal diese Welt außerhalb gesehen haben oder sich sogar ein einziges Mal sattessen.

Beim Sammeln von Feuerholz bietet sich Shin und Park dann in einem unbeobachteten Moment die Gelegenheit zur Flucht durch den Elektrozaun. Park wird von einem Stromschlag getötet, seine Leiche zieht aber die unteren Stromkabel so weit herunter, dass Shin über ihn aus dem Lager entkommen kann. Ein Stromschlag versengt seine Beine, aber er überlebt. Nach einer monatelangen Flucht durch Nordkorea und China gelangt er nach Seoul in Südkorea, wo er vor einer Auslieferung nach Nordkorea sicher ist. Als er direkt nach seiner Flucht zum ersten Mal „freie“ Menschen in Nordkorea erblickt, kam es ihm so vor, dass „diese Welt das Paradies sein müsste“. Die Menschen wurden nicht überwacht und trugen bunte Kleidung. Niemand musste die Polizeibeamten beim Vorbeigehen grüßen.

Heute ist die Flucht über China deutlich schwieriger als damals, die Grenze wird viel stärker militärisch bewacht, auf Flüchtlinge wird sofort geschossen. Selbst wer bis nach China schafft, ist nicht in Sicherheit; China liefert Flüchtlinge nach Nordkorea aus, was einem Todesurteil gleichkommt. Das nächste Land der Region, das Flüchtlinge nach Südkorea ausreisen lässt, ist Thailand. Eine direkte Flucht von Nord- nach Südkorea ist für Zivilisten so gut wie unmöglich, die beiden Staaten sind am 38. Breitengrad durch eine 4 Kilometer breite sogenannte Demilitarisierte Zone (DMZ) getrennt, an der sich seit 60 Jahren die beiden Armeen der Staaten gegenüberstehen.

Versorgungssituation im sozialistischen Arbeiterparadies

„Uns fehlt es an nichts in der Welt“ singen die Nordkoreanischen Arbeitstrupps währen ihrer Arbeitseinsätze.

1994, kurz nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und dem Tod des Staatsgründers Kim Il Sung, wurde Nordkorea von Naturkatastrophen wie Überflutungen und Dürren heimgesucht. Von der Bevölkerung Nordkoreas wurden diese Ereignissen im Zusammenhang mit dem Tod ihres Führers gesehen, „die Erde war so traurig [über Tod Kim Il Sungs] dass auf ihr nichts mehr wachsen wollte“, so zumindest der Propaganda-Apparat. Es folgte der Zusammenbruch des staatlichen Lebensmittelverteilungssystems und daraufhin eine Hungerkatastrophe, bei der rund 2 Millionen, d.h. beinahe 10 % der gesamten Bevölkerung innerhalb von einem halbe Jahrzehnt ums Leben kam.

Seit dieser Hungerkatastrophe ist die Ernährungssituation (wie auch schon vor 1994) angespannt, weitere größere Katastrophen blieben seitdem allerdings aus. Jeder Bürger bekam um das Jahr 2000 eine kleine Anbaufläche für Lebensmittel zugewiesen, auf dem Land nutzt die Bevölkerung sogar die Dächer ihrer Behausungen, um Agrarprodukte anzubauen, da die Erträge dieser Fläche kaum zum Überleben ausreichen. Ebenfalls wurden in diesem Jahr von Kim Jong Il Lebensmittelmärkte zugelassen. Zwar entzog er dem Volk dieses Recht zwei Jahre später wieder, die Märkte werden allerdings weiterhin abgehalten. Nordkorea erhält desweiteren umfangreiche Lebensmittellieferungen aus dem Ausland um eine weitere Hungerkatastrophe zu verhindern. Doch trotz der Menge an internationalen Hilfsgütern ist die Ernährungssituation unverändert angespannt.

Hilfslieferungen aus anderen Ländern, insbesondere aus Südkorea, werden nicht immer bzw. nur teilweise angenommen. Während  Baumaterialien und Reis immer gerne gesehen werden, wird Säuglingsnahrung oder z.B. auch Instantnudeln abgelehnt. Um dies zu verstehen, muss einem klar sein, dass das Militär vorrangig versorgt wird (und keine Verwendung für Säuglingsnahrung hat) und dass einige Hilfsgüter, die nicht zur eigenen Ideologie passen und daher ungewollte Stimmen in der Bevölkerung wecken könnten. So nimmt Nordkorea z.B. keine Instant-Nudeln aus Südkorea an, diese schmecken um so Vieles besser als die eigenen Produkte, dass man hier einen nachhaltigen Image-Schaden befürchtet.

In den letzten Jahren ist man bemüht unter eingeschränkter Orientierung und Kooperation mit z.B.  China und Sürdkorea vereinzelte Sonderwirtschaftszonen mit dem Ziel einzurichten durch den Ausbau der Wirtschaft die Lebensumstände der groß teils hungernden Bevölkerung zu verbessern. Dabei muss man allerdings davon ausgehen, dass die Hauptmotivation der eigene Machterhalt ist.

Die bekannteste dieser Sonderwirtschaftszonen liegt in Kaesong an der Grenze zu Südkorea. Die Nordkoreaner, die in diesen Programmen arbeiten, erhalten eine bessere medizinische Grundversorgung und Nahrungsmittel. Der Lohn dieser Arbeiter liegt mit knapp 60 US-Dollar zwar für Nordkorea extrem hoch, allerdings zieht die Regierung diesen Lohn ein und zahlt den Arbeitern nur einen sehr kleinen Anteil davon im offiziellen deutlich überbewerteten Tauschkurs in Won (Nordkoreanische Währung) aus. Offiziell werden Sozialabgaben abgezogen. Übrig bleibt dem Arbeiter laut der Südkoreanischen Zeitung Chosun Ilbo ein Monatslohn von ungefähr 2 US-Dollar.

Zum Zeitpunkt der Flucht Shins ist ungefähr ein Drittel der Bewohner Nordkoreas unterernährt bzw. mangelernährt, die medizinische Versorgung ist, wie bereits beschrieben, in einem furchtbaren Zustand. Bekommt man seltene Bilder aus dem Alltag der nordkoreanischen Bevölkerung zu Gesicht, ist man von der sichtbaren Armut und unterernährten Bevölkerung oft geschockt, selbst die von der Regierung genehmigten Aufnahmen können nicht den Mythos vom Erfolg dieses ideologischen Staates aufrechterhalten. Dass Shin diese Welt nach der Flucht aus dem Lager als paradiesisch empfindet, ist Aussage genug.

Shin Dong-hyuk

Shin lebt heute, sieben Jahre nach seiner Flucht, in Südkorea und arbeitet gelegentlich mit der Menschenrechtsorganisation LiNK zusammen, der es bisher gelang, 122 Flüchtlinge zu retten. Er sprach auch schon vor einer Kommission in Brüssel, einer Konferenz in Genf und hielt Vorträge in den USA. Er ist schwer traumatisiert und nicht in der Lage, menschliche Bindungen aufzubauen. Für Marc Wise war es unfassbar, als er plötzlich im Interview sagte, er würde zurück ins Lager wollen. „Ich hab die Übersetzerin drei, vier mal gefragt, weil ich das nicht glauben konnte. Jemand der aus dieser Hölle kommt sagt, ich will in diese Hölle zurück. Er will natürlich nicht zurück und erleben dass er gefoltert wird, aber er findet keinen Halt in seinem neuen Leben. Er ist total überfordert.“ Eine therapeutische Behandlung hat er abgebrochen und lehnt einen weiteren Versuch ab.

Filmfazit

Die Interviews zwischen Marc Wiese und Shin Dong-hyuk hatten sich durch den Zustand, in dem sich Shin befindet, sehr schwierig gestaltet. Ein vorheriger Probedurchlauf war, wie zu Beginn des Artikels bereits erwähnt, unmöglich, Shin hatte klar geäußert, er könne seine Lebensgeschichte nicht zweimal erzählen, das schaffe er nicht. Auch waren häufig längere Pausen während der Gespräche nötig. Shin hatte bis dahin diverse Anfragen eine Dokumentation zu drehen abgelehnt, nur weil dieses Mal keinerlei Druck auf ihn ausgeübt wurde stimmte er nach einer längeren Zeit plötzlich zu seine Geschichte für Camp 14 zu erzählen.

Marc Wiese rüttelt mit seinem Film Camp 14 wach. Während man in der Öffentlichkeit im Zusammenhang mit Nordkorea häufig nur vom „kommunistischen Disney-Land“ oder dem „Dem Irren mit der Bombe“ spricht oder ähnliche Verharmlosungen zu hören bekommt, zeigt er die schockierende Menschenrechtslage ungeschönt. Ohne reißerisch zu werden, stellt er uns einen jungen Mann und seine Lebensgeschichte vor, die so weit von unserer Realität entfernt ist, dass man sie nur schwer glauben kann, ohne diesem Menschen zugehört und ihm ins Gesicht gesehen zu haben. Schlüsselszenen aus Shins Leben hat Marc Wiese durch Animationen zum Leben erwecken lassen. Diese Animationen wurden unter Mithilfe von Shin erstellt.

In Camp 14 stellen die Täter Ihre Perspektive dar ohne im Vorfeld bereits durch Kommentare in ein Täterprofil gesteckt zu werden. Auf diese Art erhalten wir einen relativ einmaligen Einblick in den Alltag der Arbeitslager aus einer zusätzlichen und sehr seltenen Perspektive.

Aktuell sind etwa 40.000 Menschen in Camp 14 inhaftiert, in ganz Nordkorea befinden sich aktuell rund 200.000 Menschen in Arbeitslagern.

Nicolai A. Sprekels | Anonym (Der Redaktion bekannt.)

 

Camp 14. Total Control Zone. Ein Film von Marc Wiese. Seit 8. November im Kino.