(hpd) Peter Menasse, Chefredakteur des jüdischen Magazins NU in Österreich, formuliert in seinem Essay eine Kritik an der Instrumentalisierung des Antisemitismus-Vorwurfs und des Selbstverständnisses als Opfer. Sein damit einhergehender Appell an eine Neupositionierung jüdischer Identität wird leider beleglos, formal unstrukturiert und inhaltlich zugespitzt – eben essaystisch – vorgetragen.
Nicht nur in Israel gibt es seit einiger Zeit eine öffentliche Debatte um die Frage, worin das inhaltliche Kernelement jüdischer Identität bestehen soll. Einige Protagonisten der Kontroverse sehen in der Erinnerung an die Opferrolle im Kontext der Shoa kein zukunftsweisendes Modell mehr. Ein österreichischer Repräsentant dieser Auffassung ist Peter Menasse, der 2000 die Chefredaktion der jüdischen Vierteljahresschrift „NU“ übernahm. In seinem Essay „Rede an uns“ fordert er auf knapp über 100 Seiten, man solle mit der Fixierung auf die Erinnerung an die Morde an den Juden brechen und sich von dem damit einhergehenden Opfer-Verständnis abwenden. Vielmehr gelte es, mit dem Erbe eines großen intellektuellen Schatzes jüdischen Wirkens nach vorn zu blicken und optimistisch zu sein: „Wir müssen die Bürde der Opferrolle ablegen. Manche unter uns möchte ich aufrufen, den inflationär gebrauchten Vorwurf des Antisemitismus an unsere Kritiker einzustellen, um ihn nicht am Ende der völligen Beliebigkeit und Bedeutungslosigkeit auszusetzen“ (S. 7).
In einer Mischung von essayistischen Betrachtungen in Kombination mit autobiographischen Erinnerungen und jüdischen Witzen legt Menasse flott, locker und pointiert los. Immer wieder kreisen seine Gedanken um die Bedeutung des Antisemitismus und das Selbstverständnis als Opfergruppe. Exemplarisch dafür stehen die beiden folgenden Sätze auf der gleichen Seite: Der Kampf gegen den Antisemitismus dürfe „nicht unser vorrangiger Lebensinhalt sein. Die Rolle des Opfers passt nicht zu uns, sie ist kontraproduktiv.“ Und weiter heißt es: „Es gibt Juden, die vorschnell und unüberlegt mit dem Vorwurf des Antisemitismus zur Hand sind, auch gegenüber Menschen, die diese Verdächtigung nicht verdienen“ (S. 11). Das mag inhaltlich zutreffend sein, hätte aber genauer belegt werden können. Menasse bleibt bei vielen Ausführungen doch sehr im Allgemeinen und setzt sich so der Gefahr einer falschen Wahrnehmung aus. Gleichwohl macht er auch deutlich, dass eine inflationäre Verwendung des Antisemitismus-Vorwurfs zur Beliebigkeit führe.
Der Autor leugnet dabei keineswegs die Existenz von Judenfeindschaft, nicht jeder „blöde Bursche, der dumme Parolen krakeelt“, müsse aber „zur großen Gefahr hochstilisiert“ (S. 17) werden. Um für seine Ausgangsposition ein argumentativ gutes Feld zu bestellen, wird hier doch das Ausmaß von antisemitischen Einstellungen nicht immer genügend beachtet. Menasse meint außerdem, dass man sich gegenüber Kritik an der israelischen Politik nicht alarmistisch, sondern argumentativ auseinandersetzen müsse. Die legitimen Sicherheitsinteressen Israels leugnet er dabei nicht. So findet man folgendes Gedankenspiel im Essay: „Wie würden die acht Millionen Österreicher sich fühlen, wären sie rundum von nichtdemokratisch organisierten Ländern mit einer Gesamtbevölkerung von 300 Millionen Menschen umgeben, deren Anführer lautstark bei jeder sich bietenden Gelegenheit ‚Tod allen Österreichern’ proklamierten. Es leben in Israel nicht mehr Menschen als im Alpenland und sie sind tagtäglich vom Untergang bedroht“ (S. 36).
Immer wieder – als wolle er den Lesern die Botschaft einhämmern – beschwört er, „dass wir Juden das Opferbewusstsein ablegen müssen, um mit klarem Blick zwischen Freunden und Feinden unterscheiden zu können. Die Antisemiten sind viele, aber sie sind dennoch eine Minderheit“ (S. 60). Als Alternative zur Opferrolle sei das würdige Erinnern angesagt. Man solle lieber in eine jüdische Zukunft investieren. Menasses Essay formuliert gegen Ende: „Die Repräsentanten unserer Gemeinde sind aufgerufen, Kritikern, die einen seriösen Kommentar auf ihre Meinungen und Fragen verdienen, unaufgeregt zu begegnen. Das Wort ‚Shoah’ sollten sie dabei nicht mehr verwenden. Es ist eine Beleidigung für die Opfer dieser grausamen Zeit, wenn alles und jedes so benannt wird. Nicht jeder dumme Antisemit erfordert unsere Aufmerksamkeit. Manchmal können wir einfach schweigen“ (S. 106). Dies trifft sicherlich zu, gleichwohl bedarf es auch immer einer öffentlichen Gegenposition. Sie sollte aber nicht (nur) von den Juden, sondern von der demokratischen Zivilgesellschaft ausgehen.
Armin Pfahl-Traughber
Peter Menasse, Rede an uns, Wien 2012 (edition a), 107 S., 14,90 €.