„Wir mussten fast bei null beginnen“

Der Weg, den wir in West-Berlin gegangen sind, war dann auch für Ost-Berlin erfolgreich, weil wir uns konzeptionell neu aufgestellt hatten. Die Projekte und Dienstleistungen, die wir sozusagen alle bereits im Köcher hatten, konnten wir entsprechend realisieren. Nach der Öffnung der Mauer gab es neue Gestaltungsspielräume, die wir mit dem Aufbau von Angeboten zur Lebenshilfe, zur Sozialarbeit und Jugendhilfe nutzen.

 

War das sie schwierigste Phase oder erinnerst du, ob es später noch eine andere schwierige Phase gab?

 

Es gab noch zwei, drei weitere Phasen. Es gab keine so schwierige Situation, die derart existentiell war, dass ich gesagt hätte, es steht alles auf der Kippe.

Aber noch einmal zurück zum Thema Wachstum: Wir haben nach 1989 gleich diskutiert, brauchen wir eine bundeseinheitliche Organisation? Mit dem Schritt, ein größeres Dach zu schaffen, haben wir richtig gelegen. Es klingt jetzt so simpel, es gab bei diesem Schritt einige ‚Geburtswehen’. Dass der alte westdeutsche Freidenker-Verband draußen geblieben ist, war nicht zu umgehen, denn im wiedervereinigten Deutschland hatte nur ein moderner Humanismus eine reale Chance auf gesellschaftliche Akzeptanz.

1993 waren die Schwierigkeiten der Wende und des Wachstums bei den Humanisten nicht bewältigt. Die Landesverbände in Sachsen-Anhalt und in Brandenburg mussten Insolvenz anmelden. Beide betrieben z. B. Kitas und Nachbarschaftsheime, die mit den vorhandenen Kräften nicht zu steuern waren, weder von den Ehrenamtlichen noch den professionellen Hauptamtlichen. Das hat den humanistischen Verband insgesamt zurückgeworfen. Wir haben eigentlich alles in diesen Landesverbänden verloren und mussten fast wieder bei null anfangen. Auch strukturell war das ein negativer Einschnitt, den wir in Brandenburg mit der Fusion Berlin-Brandenburg zum Teil geheilt haben. In Sachsen-Anhalt arbeiten kleinere Einheiten als Landesgemeinschaft. Sie machen dort in verschiedenen Geschäftsfeldern eine gute Arbeit. Aber der Verband als Weltanschauungsgemeinschaft wird in der Region nur  wenig wahrgenommen. Ich hoffe, dass in den kommenden Jahren mit Unterstützung des Bundesverbandes eine Konsolidierung eintritt, dass wir dort wieder anknüpfen können, wo wir 1993 gestartet sind.

 

Die Umbenennung 1993 in Humanistischer Verband Deutschlands war das nationale Dach, an dem dann gebaut wurde?

Ja, wir haben den Diskussionsprozess gleich nach Öffnung der Mauer 1989 angefangen. Ich denke, dass wir als Westdeutsche die Debatte über einen längeren Zeitraum haben laufen lassen, war in Ordnung. Sonst hätte es wieder geheißen, die Besser-Wessis „marschieren“ im Osten ein und strukturieren alles neu. An anderen Stellen ist es ja so gewesen und die DDR-Bevölkerung hat das bewusst miterlebt und darunter gelitten.

Gleich nach der Wende hatten sich zahlreiche unabhängige Freidenker-Organisationen im Osten gegründet. In Brandenburg gab es z. B. den Interessenverband der Konfessionslosen, in Sachsen-Anhalt entstanden die Freien Humanisten, die sich stärker an den Freireligiösen orientierten. Über einen Zeitraum von zwei Jahren wurde in Gruppen und Verbänden, auf Sitzungen und Konferenzen heftig gestritten und verhandelt. Die Ostdeutschen konnten einen Teil ihrer DDR-Identität mit in den neuen Verband einbringen. Das hat sich ausgezahlt. Mit dem Schlusspunkt der Gründungsversammlung am 14. Januar 1993 konnte daher ein starkes Signal zur Beendigung der Zersplitterung der Freidenker, Agnostiker, Atheisten in diversen Kleingruppen ein Ende gesetzt werden.

Gab es neben diesen schwierigen Phasen…

Das waren noch nicht alle schwierigen Zeiten… (Gemeinsames Lachen). Du hattest mich nach den schwierigen Phasen der verbandlichen Arbeit gefragt. Es gab noch drei solche Ereignisse. 1999 haben wir vom Verwaltungsgericht ein Urteil hinnehmen müssen, das konstatierte, dass es keinen etatisierten Rechtsanspruch im Berliner Haushalt zur Förderung des Verbandes gab. Es war absurd, denn vom Berliner Senat bekamen wir für Lebenskunde Zuwendungen und eine institutionelle Verbands-Förderung. Nur im Haushaltsplan des Landes stand immer „Religionsgemeinschaften“, da kamen die Weltanschauungsgemeinschaften gar nicht vor. Das Gericht hat das beanstandet. In der Berliner Kulturverwaltung agierten damals Personen, die dieses Urteil sofort umgesetzt und die Gelder des HVD von einem Tag auf den anderen gesperrt haben. Das waren 1999 schon Millionenbeträge, die wir für die Finanzierung der Lebenskunde bekamen. Die vielen hauptamtlichen Lehrer und Lehrerinnen, die wir beschäftigten, konnten ja nicht sofort gekündigt werden. Wenn es so geblieben wäre, hätte dies zu einer Insolvenz des Verbandes geführt. Das war ein sehr kritischer Moment, aber der Verband hat zusammengestanden, die Lehrer haben darauf vertraut einen Monat oder später ihr Gehalt zu bekommen, während die Verbandsspitze sich politisch engagierte, um diese Beschlüsse wieder aufheben zu lassen. Das haben wir dann auch innerhalb kurzer Zeit geschafft, indem wir mit den Berliner Abgeordneten ins Gespräch gingen. Der Hauptausschuss hat dann beschlossen, dass wir wieder Geld bekommen. Der Gesetzgeber hat später die Titelbezeichnung dahingehend geändert, dass auch die Weltanschauungsgemeinschaften finanziert werden können.

Die anderen schwierigen Probleme sind neueren Datums, zum einen die Auseinandersetzung um Pro Reli. Aus unserem weltanschaulichen Selbstverständnis war klar, sich für Pro Ethik auszusprechen. Dafür haben wir 2008/2009 sehr viele politische Anfeindungen von den Kirchen und Konservativen hinnehmen müssen. Umso zufriedener waren wir, dass der Volksentscheid so eindeutig positiv für die fortschrittlichen, säkularen Kräfte ausgegangen ist.

Die letzte Geschichte sind die Stasi-Vorwürfe gegen Bruno Osuch, den damaligen Berliner HVD-Vorsitzenden. Als Verband haben wir eindeutig hinter Osuch gestanden. Das war eigentlich nicht das Problem. Die Schwierigkeit war, dass wir die Anfeindungen in der Öffentlichkeit und durch die Medien nur sehr schwer abwehren konnten. Dass wir in der Sache trotzdem erfolgreich waren, haben wir zum einen der guten politischen Netzwerkarbeit in der Stadt zu verdanken. Herrn Henkel [CDU, derzeitiger Innensenator in einer Großen Koalition] werde ich aber nicht nachsehen, dass er, als die Vorwürfe gegen Bruno Osuch aufkamen, als erstes gefordert hatte, dem HVD die Gelder zu streichen. Er wollte damals den HVD zusammen mit Osuch in die Sippenhaft nehmen. Wenn ich Henkel treffe, werde ich ihn fragen, wie er heute dazu steht. Der andere Grund für unseren Erfolg war Rechtsanwalt Eisenberg, der mit seiner professionellen Kompetenz durch alle Instanzen gekämpft hat und wir schließlich die Prozesse gewinnen konnten.

Das waren für mich sehr existentielle Momente. Wir konnten uns damals nicht sicher sein, wie der Streit ausgeht. Osuch ist völlig rehabilitiert, an den Stasi-Vorwürfen war absolut nichts dran. Leider kursieren diese Geschichten aber immer noch im Internet. Das ist sehr schmerzlich, aber niemand, der eine politische Führungsposition ausübt, ist gegen solche Angriffe gefeit. Ich persönlich bin nie so scharf angegangen worden. In weitaus schwächerer Form habe ich zwei-, dreimal Ähnliches erlebt. In meinem Aufsatz „Das Gras des Vergessens“ ging es um Verquickung von Stasi und DDR-Freidenkertum. In der säkularen Szene bin ich als „Vatermörder“ und als „Nestbeschmutzer“ angegriffen worden. Aber sonst... ich habe Anfeindungen immer überleben oder wegstecken können. Ich weiß nicht, ob ich ein dickes Fell hatte? Das Entscheidende ist für mich immer gewesen, es gibt hier einen innerverbandlichen, geschützten Raum, da stehen Menschen zu dir und man hält zusammen. Diese Solidarität, die ich spüre, auch wenn man zeitweise alleine ganz vorne steht, diesen Rückhalt zu haben, das war für mich immer besonders wichtig. Das hat mich in den Jahren getragen.

 

Wie viele Mitarbeiter hat der HVD Berlin-Brandenburg jetzt aktuell?

 

1.100. Bis zur Jahreswende werden es fast einhundert Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen mehr sein.