„Wir mussten fast bei null beginnen“

Das ist dann sozusagen der zweite Schritt? 1983 war die Situation ja noch, wie du es beschrieben hast, noch anders und es folgte dann der ruhige Aufbau?

Wir haben in dieser Phase von 1983 bis 1989 - denn 1989 kam dann etwas ganz Neues -, festgestellt, dass die Orientierung auf die Arbeiterschaft nicht mehr funktionierte. Als Familientradition lebte mit abnehmender Teilnehmerzahl die Jugendweihe. Aber dies hat nicht gereicht, um den Verband voranzubringen. Wir mussten uns neuen Zielgruppen und Bündnispartnern öffnen, die Jugendweihe modernisieren und konkrete Dienstleistungen entwickeln. Was wir dann als erstes Projekt gemacht haben, war die Wiederbelebung der Lebenskunde. Dieses freiwillige Schulfach war über die Jahre eingeschlafen, obwohl es in West-Berlin eine lange Tradition hatte. Willy Brandt hatte sich sehr stark für den Verband und die Lebenskunde eingesetzt; und wir haben es dann 1983 mit einem Modellversuch in Neukölln neu gestartet. Dieser war so erfolgreich, dass wir schon vor der Wendezeit ansehnliche Teilnehmerzahlen aufweisen konnten.

Es wurde mit einer einzigen Klasse begonnen?

Mit einer Klasse an der Theodor-Storm-Schule in Neukölln, schräg gegenüber von unserer damaligen Geschäftsstelle in der Hobrechtstraße. (Lachen) Aber das war, denke ich, nur ein Zufall. Rahmenpläne, Unterrichtsmaterialien, Lehrerausbildung: Wir mussten fast bei Null beginnen. Hätten wir damals nicht die Kontakte zu den humanistischen Organisationen in Westeuropa gesucht, wären wir nicht so schnell mit einem professionellen Angebot vorangekommen.

Das war auch eine unserer Strategien: Wir schauen einmal, was machen die Humanisten in den Niederlanden, was passiert in Norwegen, was in Finnland? Die finnischen Freidenker organisierten auch einen Lebenskundeunterricht. Sie besaßen fundierte und erprobte Lehrpläne und wir waren dankbar, dass wir Orientierungshilfen von ihnen bekommen haben.

Uns war wichtig, von den westeuropäischen Humanisten zu lernen. In ihrer praktischen Orientierung waren sie uns drei Schritte voraus.

Die Kontakte, die auch heute noch in die Niederlande und nach Belgien bestehen, sind damals entstanden?

Ja. Wir sind hingefahren und haben dort die Kontakte gesucht. In den Niederlanden, in Belgien, Finnland und Norwegen. Dort gab es starke humanistische Organisationen und von denen haben wir viel gelernt: Säkularen Humanismus, praktische Lebenshilfen für Konfessionsfreie. Wollten wir Konfessionsfreie als Mitglieder gewinnen, mussten wir uns von der vornehmlich sozialdemokratischen Orientierung verabschieden. Die Sozialdemokraten wussten ohnehin nichts mit uns anzufangen, außer vielleicht einige Funktionäre, die auf unseren Jugendweihefeiern redeten. Das waren prominente Sozialdemokraten wie die Senatoren Lipschitz und Striek, also sozusagen die erste Reihe. Sie standen noch in der Tradition des alten Freidenkertums. Aber uns war klar, dass diese Traditionslinie demnächst abreißen würde.

 

Ursprünglich war für die Freidenkerbewegung die Feuerbestattungsversicherung ein zentrales Element gewesen. War das dann nach dem Krieg fortgefallen?

 

Das war unter den Bedingungen der Bundesrepublik nicht mehr fortzusetzen. Die Ursachen hierfür gehen ins Jahr 1933 zurück. Die Nazis hatten die Organisation des Freidenker-Verbandes verboten, haben aber die Bestattungskasse, die Teil des Verbandes war, gleichgeschaltet und als Neue Deutsche Bestattungskasse fortgeführt. Das war das Problem der organisierten Freidenker damals. Wenn sie aus Überzeugung aus dieser umgemodelten Versicherungskasse ausstiegen, dann verloren sie ihre Ansprüche, obwohl sie jahrelang ihren „Arbeitergroschen“ eingezahlt hatten. Deshalb sind viele dort drin geblieben, um eben eine kostengünstige Beerdigung finanzieren zu können. Und nach Ende des Faschismus war die Situation, dass die Altfunktionäre des Freidenker-Verbandes die Herausgabe des Vermögens verlangten. Gerichte haben später diesen Anspruch abgewiesen. Sie urteilten, dass der Verband zwar aus ideologisch-politischen Gründen verboten worden war, aber die Mitglieder, so die Gerichte, hätten ja austreten können.

Aus dieser Neuen Deutschen Bestattungskasse ist nach 1948 die IDEAL-Versicherung entstanden. Der Bundesgerichtshof entschied sogar noch in den siebziger Jahren, dass die Nachfolgeorganisation des von den Nazis zerschlagenen Freidenker-Verbandes Ideal-Versicherung sei. (Allgemeines Lachen) Das muss man sich heute einmal vorstellen. Es waren die Kalte-Kriegs-Zeiten, in denen sogar offizielle Kontakte zum Sportbund der DDR unter Strafe standen. Solche Urteile wären heute nicht mehr möglich.

Aber dann kam 1989. Und es gab, denke ich, auch ein paar neue Gesichter, einen neuen Bezugsrahmen, auch innerhalb Berlins, die Insel war nicht mehr Insel, sondern Teil eines Größeren geworden, was ist dann geschehen, dass aus dem Freidenkerverband der Humanistische Verband wurde?

Ja. Im Nachhinein würde ich sagen, es war eine der schwierigsten Situationen nach Öffnung der Mauer. Wie gehen wir mit dem existierenden Freidenkerverband der DDR um? Er war erst 1988 gegründet und bestand somit erst ein Jahr. Es war der politische Wille des Freidenker-Verbandes der DDR mit den Bundesdeutschen Freidenkern eins zu eins, also auf gleicher Augenhöhe zu fusionieren; andere Organisationen haben das ja gemacht. Aus politischen Gründen mussten wir das ablehnen. Wir als West-Berliner Verband haben uns dafür entschieden, die DDR-Freidenker als Einzelmitglieder aufzunehmen, aber nicht als Organisationen zu fusionieren. Das hat der Deutsche Freidenker-Verband anders gesehen.
In Berlin war es so, dass der Berliner Landesverband der DDR-Freidenker sich aufgelöst hat und die Einzelmitglieder sind dann bei uns eingetreten.

Ich denke heute, das war der richtige Weg. Wir standen an der Stelle sehr genau im Fokus der Politik, die genau geschaut hat, was wird aus diesem Verband, was macht er in dieser Situation. In diesen Wendezeiten gab es auch genügend Informationen, dass der DDR-Freidenkerverband von der Stasi geschützt und teilweise geleitet worden war.

Ich muss im Nachhinein auch sagen, dass einer der Erfolge des Berliner Verbandes die gelungene Integration Ost-West war. Ich kenne in dieser Stadt nur wenige Organisationen, die das so optimal geschafft haben wie wir. Natürlich haben wir auch Rückschläge erlebt. Aus dem DDR-Freidenkerverband haben wir z. B. auch Beschäftigte übernommen, von denen wir einzelne wieder entlassen mussten.

Die Geschichte mit Bettina Wegner ist dafür ein Beispiel: Wir hatten einen Kollegen angestellt, der in dem Jugendfeierteam tätig war. Er sagte, er würde Bettina Wegner kennen und die würde er gerne als Rednerin für die Jugendfeier gewinnen. Wir fanden den Vorschlag hervorragend. Und dann Rückmeldung von Bettina Wegner: Mit euch nicht, denn der Mann, den ihr geschickt habt, das ist der Stasi-Mann, der mich in der Vergangenheit bespitzelt hat. Das haben wir natürlich nicht gewusst.
Unser Mobilitätshilfe-Dienst begleitete einen behinderten Klienten im Rollstuhl, der uns informierte, dass beispielsweise einer unserer Betreuer ein Stasi-Mann gewesen sei, der ihn bei einer Friedensdemonstration mit dem Knüppel geschlagen hatte.

Das waren aber nur Einzelbeispiele. Mehrheitlich haben die Ost- und West-Berliner respektvoll zueinander gefunden. Das ist ein Verdienst der Beschäftigten des Verbandes, dass sie diese Integration geschafft haben. Die Frage „ Wo kommst du her?“ spielt heute nur noch im persönlichen Bereich eine Rolle; im Arbeitszusammenhang hat das keine Bedeutung mehr. Und eins muss man auch sagen: Als Verband in der Hauptstadt profitierten wir Freidenker von der Wende. Der Osten war ja atheistisch geprägt. In Wendezeiten sind wir von staatlichen Stellen - Senat, Bezirksämter - befragt worden, ob wir als Weltanschauungsgemeinschaft uns nicht stärker engagieren wollten. Wir hätten sehr viel mehr machen können, wenn unsere Kapazitäten gereicht hätten. Kluger Weise haben wir auf kontrolliertes Wachstum, nach innen als auch nach außen gesetzt und unsere Kräfte gut gebündelt.