Sind sie stärker oder wir wacher?

hpd_titel.jpg

Alle Fotos © F. Nicolai

BERLIN. (hpd) Das Netzwerk für sexuelle Selbstbestimmung ruft am kommenden Samstag zu einer Kundgebung in Berlin auf. Um zuvor auf das Thema einzustimmen, lud das Netzwerk in Zusammenarbeit mit der Heinrich-Böll-Stiftung und dem Bildungswerk Berlin gestern zu einer Diskussion in die URANIA ein.

Wenn am Samstag in Berlin wieder einmal der "Marsch für das Leben" von selbsternannten "Lebensschützern" stattfindet - der auch von evangelischen Bischöfen unterstützt wird - möchte das Netzwerk Aufklärung dagegen setzen. Deshalb wird es eine Kundgebung - die bewusst nicht als Gegenveranstaltung bezeichnet wird - am Brandenburger Tor geben, die unter dem Motto steht: "Leben und lieben ohne Bevormundung!"

Am gestrigen Abend wurde im Loft der URANIA darüber diskutiert, ob die sexuelle Selbstbestimmung in Gefahr ist und ob der (christliche) Fundamentalismus in Deutschland erstarkt. Auf dem Podium saßen die Geschäftsführerin des Berliner Familienplanungszentrums BALANCE, Sybill Schulz, die die Diskussion leitete. Ihr zur Seite saßen der ehemalige Pfarrer und Politologe Hartwig Hohnsbein, die Grünen-Politikerin und LSVD-Vorstandmitglied Anja Kofbinger. Zudem die durch das Anstoßen der Sexualisierungsdebatte #Aufschrei bekannt gewordene Anne Wizorek sowie für die Giordano Bruno Stiftung Dr. Fiona Lorenz.

So wurde darüber diskutiert, dass Deutschland das einzige europäische Land ist, in dem die "Pille danach" nicht frei verfügbar ist, sondern noch immer nach teilweise in entwürdigender Weise vorgenommenen Untersuchungen der Frauen verschrieben wird. Das Podium war sich einig, dass die Gesellschaft insgesamt sich nicht des Unterschiedes zwischen der "Pille danach" und einer sog. "Abtreibungspille" bewusst ist. Das betrifft vor allem auch Frauen, die vor der Entscheidung stehen, dieses Medikament einnehmen zu müssen.

Anja Kofbinger, die sich selbst als "begeisterte Homosexuelle" bezeichnete, berichtete von dem Wandel, den sie selbst erlebt. Anfänglich nahm auch der LSVD die Angriffe von fundamental-christlicher Seite und deren Versuch eines Roll-Back nicht wirklich ernst: "Doch auch wenn wir noch immer über die Absurdität der Meinungen lachen; wir nehmen das inzwischen sehr wohl sehr ernst."

Sie wies darauf hin, dass es zu ihrer politischen Arbeit gehört, auch mit Politikern der Gegenseite zu reden: "wir ekeln uns vor nix" - und so spricht der LSVD auch mit Politikern wie Kauder, Missfeld und Frau von der Leyen.

Hohnsbein und Lorenz gingen vor allem auf die Quellen des Fundamentalismus ein. Vor allem der Pfarrer i.R. verlas Bibelzitate, mit denen er aufzeigte, was hinter der frauenverachtenden Ideologie steckt. Schon allein aus einem Satz wie "Der Mann ist das Haupt der Frau" nehmen Fundamentalisten sich das vermeintliche Recht, auch über die sexuelle Selbstbestimmung der Frau bestimmen zu wollen. Der Körper der Frau ist danach das Eigentum des Mannes. Doch nicht allein die katholische Kirche vertritt diese Lehre. Auch Luther ist nicht weit entfernt davon, wenn er schrieb: "Die größte Ehre für die Frau ist, dass sie den Mann geboren hat." Fiona Lorenz beschäftige sich vor allem mit der Frage, ob denn tatsächlich die Einflussnahme der Kirchen in die Politik stärker wurde, wie es viele von uns wahrnehmen, oder ob sie nicht nur lauter wurden.

Allerdings ist auch die Sensibilität der Mehrheitsgesellschaft gewachsen. Was man sich vor 20 Jahren noch widerspruchslos anhören musste, wird jetzt auch öffentlich diskutiert. Und kritisiert.

In diese Richtung ging auch das Statement von Anne Wizorek. In der Sexismusdebatte, die sie in Twitter mit dem Hashtag #Aufschrei initiierte, stellte sich heraus, dass es häufig auch aus den Kreisen, die sexistisch sind, zu Rassismus kommt. Der dazu aktuelle Hashtag #SchauHin findet jedoch nicht die mediale Aufmerksamkeit. Sie wies darauf hin, dass es Menschen gibt, die so doppelt ausgegrenzt werden.

In der anschließenden offenen Diskussion mit dem Publikum gab es einige sehr gute Ideen und Anregungen. So wurde darüber diskutiert, dass häufig die Politik Dinge miteinander vermischt, die nichts miteinander zu tun haben. Als Beispiel nannte eine Zuhörerin, dass, wenn in der Politik über Prostitution geredet wird, immer auch über Menschenhandel gesprochen wird. Dass es Frauen gibt, die Prostitution aus freien Stücken als eine Gewerbe wie viele andere ansehen und sie daher die Rechte wie sie anderen Gewerbetreibenden zustehen, einfordern, wird dabei immer unter den Tisch gekehrt.

Eine interessante Diskussion ergab sich, nachdem eine junge Frau davon sprach, dass auch in alternativen, häufig linken Szenen Frauen einer Abtreibung sehr kritisch gegenüberstehen: "Sie füttern ihr Kind nur mit Biogemüse, möchten es zwei Jahre stillen und genießen das Natürliche einer Geburt." Soweit, so gut. Aber es käme ihr regelrecht typisch deutsch vor, wenn auch diese Frauen die Mutterschaft als etwas quasi Heiliges ansehen. Sie nannte diese Frauen "deutsch-national".

Sybill Schulz bestätigte diese Beobachtungen aus ihrer eigenen täglichen Arbeit: "Selbst Frauen, die sich zuvor für die sexuelle Selbstbestimmung stark machten, werden, wenn sie selbst schwanger werden, plötzlich moralisch." Das - so die Geschäftsführerin des Familienplanungszentrums - ist der "Moralisierung" dieser Fragen in der Gesellschaft zu verdanken. Solange Themen, die sich in einem Bereich bewegen, bei dem sich schnell ethische Fragen stellen, moralisiert werden, wird sich daran nichts ändern.

Und - natürlich - gab es wieder den einen Besucher, der seine Unterschrift von der Unterstützerliste des Netzwerkes gestrichen haben wollte, weil die Giordano Bruno Stiftung (GBS) daran beteiligt sei. Denn schließlich habe die GBS Peter Singer den Ethik-Preis verliehen. Es war der Gesprächsleitung zu verdanken, dass die ansonsten interessante Diskussion nicht durch solcherlei Einwurf gestört wurde.

Zu guter Letzt wurde von den Anwesenden vereinbart, auch zukünftig besser zusammenzuarbeiten und nicht nur von Kundgebung zu Kundgebung miteinander zu reden.

F.N.

Fotos der Referenten auf der Folgeseite.