KÖLN. (hpd) Die 90seitige Broschüre wurde im Auftrag der Giordano-Bruno-Stiftung von dem Physiker und Philosophen Prof. Dr. Gerhard Vollmer erarbeitet. Sie gibt eine ganz hervorragende, kompakte und allgemeinverständliche Übersicht der grundlegenden Positionen des Naturalismus.
Alle wichtigen Kernpunkte unseres wissenschaftlich fundierten Weltbildes und die Grundlagen einer naturalistischen Ethik werden angesprochen.
Der Naturalismus geht davon aus, dass es in der Welt ausschließlich natürliche Dinge und Eigenschaften gibt. Auf eine einfache Formel gebracht, behauptet der Naturalismus, dass es in der Welt mit rechten Dingen zugeht, d.h. es läuft alles im Rahmen von Naturgesetzen ab. Er steht damit im Widerspruch zum Theismus, Spiritualismus und Okkultismus. Begründet wird der Naturalismus damit, dass die großen Erfolge der Naturwissenschaften in den letzten Jahrhunderten gezeigt haben, dass die empirische Methode der Gewinnung von Erkenntnis über die reale Welt besonders erfolgreich ist. Wunder, d. h. Verletzungen von bekannten Naturgesetzen konnten bisher nicht zweifelsfrei nachgewiesen werden. Für den Naturalismus spricht, dass alles, was existiert, aus natürlichen Bausteinen und Kräften besteht. Auf der niedrigsten Ebene sind das die Elementarteilchen, die vier Grundkräfte der Natur und das was man allgemein als Information bezeichnen könnte. Aus diesen Dingen hat sich im Laufe der Evolution das Leben bis hin zum Menschen entwickelt. Unser wissenschaftliches Weltbild hat zwar noch immer Lücken, aber sie werden immer kleiner und weniger. Ob sie jemals ganz verschwinden werden, kann man nicht sicher vorhersagen, aber das Füllen dieser Lücken mit religiösem oder esoterischem Hokuspokus wird die Menschheit sicher nicht weiter bringen.
Den in Deutschland von der Giordano-Bruno-Stiftung vertretenen evolutionären Humanismus könnte man auch als eine Variante des naturalistischen Humanismus bezeichnen. Damit ist ein wissenschaftlich fundierter Naturalismus der Grundpfeiler für die vertretene Position der Stiftung. Wegen der Objektivität der Naturwissenschaften sollte man hier eher von einem objektiven Weltbild als von einer subjektiven Weltanschauung reden. Insofern unterscheidet sich die Stiftung von anderen humanistischen Vereinigungen, die stärker geneigt sind, metaphysische Begründungen und Herleitungen für ihre Grundsätze zu akzeptieren.
Warum es etwas gibt, und wie es entstanden ist
Im ersten Teil der Schrift geht Vollmer auf die abstrakten Gegenstände wie Logik, Mathematik und Metaphysik ein, gefolgt von den Problemen des Realismus und dem Aufbau der Welt. Die von vielen als philosophisch besonders tiefsinnig gehaltene Frage, warum es überhaupt etwas gibt und nicht vielmehr nichts, ist nach Vollmer recht leicht aufzuklären. Eine Antwort auf die Frage nach der Ursache für die Existenz der Welt kann nur von außerhalb der Welt gegeben werden. Da die Welt aber definitionsgemäß alles umfasst, was es gibt, kann es nichts Außerweltliches geben. Fazit: entweder ist die Frage sinnlos oder unbeantwortbar. Fest steht damit jedenfalls, dass die Frage nicht besonders tiefsinnig ist.
Bei den kosmologischen Fragen richtet sich der Naturalist nach den Ergebnissen der naturwissenschaftlichen Kosmologie. Auf die zentrale Frage, wie das Universum entstanden ist, gibt es inzwischen zumindest gut fundierte wissenschaftliche Hypothesen, wie sie z.B. von dem amerikanischen Physiker Lawrence Krauss vertreten werden, siehe: "Ein Universum aus Nichts". Gerade im Bereich der Kosmologie und der Physik der Elementarteilchen erleben wir derzeit einen rasanten Erkenntnisgewinn, der nicht zuletzt auf die großen Fortschritte im Bereich der Instrumentierung zurückzuführen ist.
Ethische Grundsätze
Dass sich der Naturalist bei Fragen zum physischen Weltbild an den Ergebnissen der Naturwissenschaften orientiert, ist selbstverständlich, aber wie sieht es mit ethischen und moralischen Grundsätzen aus? Nach Vollmer gibt es für solche Grundsätze keine Letztbegründungen. Das gilt dann allerdings auch für göttliche Gebote und Verbote, denn es gibt keinen überzeugenden Nachweis, dass sie wirklich von einer Gottheit stammen. Eine relative Begründung für moralische Grundregeln ist jedoch möglich. Dabei geht der Naturalist neben erprobten Prinzipien, wie der Verallgemeinerbarkeit, der Goldenen Regel, Kants Kategorischem Imperativ und dem Prinzip der Fairness von einem pragmatischen Standpunkt aus. Regeln die das Zusammenleben in der Gemeinschaft und das Glück einzelner befördern, ohne dass sie auf Kosten anderer gehen, gelten als gute Regeln. Auf religiöse oder metaphysische Letztbegründungen wird dagegen verzichtet. Es gibt nicht das Gute und das Böse schlechthin, sondern es gibt Freude und Leid und daran sollte man sich bei der Suche nach Werten orientieren. Auch wenn die Wissenschaft nicht unmittelbar moralische Werte begründen kann, so kann sie doch das Verhalten von Menschen auf eine wissenschaftliche Grundlage stellen und damit zum Verständnis beitragen.
Künstliche Intelligenz und die Willensfreiheit
In humanistischen Kreisen wird die Menschenwürde überwiegend als besonders hohes Gut geachtet. Wegen der damit herausgestellten Besonderheit des menschlichen Geistes wird dann auch von vielen die Machbarkeit der künstlichen Intelligenz bis hin zu Maschinen mit Bewusstsein für völlig unmöglich gehalten. Dieser Position erteilt Vollmer eine Absage: „Da für den Naturalisten das Gehirn und seine Leistungen völlig natürlich sind, hält er auch künstliche Intelligenz für möglich, in Teilbereichen sogar schon verwirklicht. Soweit allerdings Intelligenz an Bewusstsein gebunden ist, sieht er vorerst keine Möglichkeit, künstliche Intelligenz zu schaffen. …Einen Grund, warum es auf Dauer unmöglich sein sollte, sieht der Naturalist allerdings nicht.“ Die Begründung liegt darin, dass aus Sicht des Naturalisten, im Gehirn keine Prozesse ablaufen, die über die klassische Physik und der darauf aufbauenden Biochemie hinausgehen. Diese laufen aber vollständig algorithmisch ab und damit sind die Prozesse prinzipiell mit einem Computer nachvollziehbar. Selbst wenn das Gehirn unmittelbaren Zugriff auf quantenmechanische Prozesse hätte, was im Moment eher unwahrscheinlich erscheint, wäre das kein Argument gegen die Machbarkeit der künstlichen Intelligenz, weil diese Prozesse mittlerweile ebenfalls in Maschinen (Quantencomputer) nachvollzogen werden können. Klar ist damit auch sofort, dass es die Willensfreiheit nach der strengen Definition von Immanuel Kant nicht geben kann, denn sie würde eine Physik erfordern, die nichtalgorithmisch sein müsste. Der ontologische Indeterminismus, wie er in der Quantenphysik vermutet wird, würde zur Begründung eines freien Willens auch nicht allzu viel nutzen, denn dann wären unsere „freien Entscheidungen“ rein zufällig.
Kritik am Realismus
Die Darstellung des Naturalismus ist in der Broschüre so überzeugend, dass man sich fragt, wie man überhaupt den Naturalismus in Frage stellen kann. In Diskussionen mit Verfechtern des religiösen Glaubens kommt häufig das Argument, dass der Naturalismus ja auch nicht ohne Dogmen auskäme. So seien die Prämissen des Naturalismus, nämlich der Realismus und der Rationalismus Annahmen, die man glauben müsse. Vollmer geht auf diese Problematik ein und vertritt den Standpunkt, dass man in der Tat diese beiden Prämissen nicht beweisen kann, dass es aber gute Argumente gibt, die für diese Prämissen sprechen. So sei der ontologische Realismus zwar keine empirisch prüfbare, wohl aber eine kritisierbare metaphysische Hypothese und gehöre damit zur guten Metaphysik. Es ist nämlich möglich, dass Theorien über die Wirklichkeit scheitern, weil die Welt tatsächlich anders ist als angenommen. Bei religiösen Dogmen ist das dagegen in der Regel nicht möglich, weil sie keinen konkreten Bezug zur Wirklichkeit haben. Diese Dogmen muss man dann dementsprechend als schlechte Metaphysik einstufen. Vollmer schreibt dazu: „Ist eine Theorie tatsächlich nicht prüfbar, so sollte sie wenigstens anderweitig kritisierbar sein. Diese Forderung gilt für alle wissenschaftlichen, ja sogar für alle rationalen Unternehmungen; Kritisierbarkeit ist danach das beste Kriterium für Wissenschaftlichkeit und allgemein für Rationalität. Dagegen ist Dogmatismus keine rationale Einstellung.“
Gerade in den letzten Jahren sind durch die Ergebnisse der modernen Physik Zweifel am Realismus aufgekommen. Dinge wie Materie, Zeit und Raum, die im althergebrachten Materialismus die Grundstruktur der Wirklichkeit darstellten, verlieren ihren absoluten Charakter. Einen primitiven Materialismus, bei dem es außer Materie und Energie nichts gibt, muss man daher als überholt ansehen. Vollmer argumentiert: „Sollte sich herausstellen, dass die Grundstrukturen unserer Welt nicht Raum und Zeit sind, sondern etwa die Strings der Stringtheorie oder die Schleifen der Loop-Quantengravitation, so wäre das weder für den Realisten noch für den Naturalisten bedenklich.“ Entscheidend ist hier, dass sich der Naturalismus an die neuen Erkenntnisse der Naturwissenschaften anpasst, während sich die Religionsvertreter in der Regel dagegen wehren. Eine besonders gelungene Definition der Realität hat der Science Fiction Autor Philip K. Dick geliefert: „Realität ist das, was nicht verschwindet, wenn man nicht mehr daran glaubt.“