Gretchenfragen an den Naturalisten

Der Vorwurf der Wissenschaftsgläubigkeit

Ein weiteres häufig vorgebrachtes Argument gegen den Naturalismus ist das der Wissenschaftsgläubigkeit. Wissenschaft und hier insbesondere die Naturwissenschaften, so das Argument, kann nicht alles ergründen. Menschliche Dinge wie Bewusstsein, Wille und Gefühle einerseits und die Produkte des menschlichen Geistes z.B. im Bereich der Kunst und der Philosophie andererseits, entziehen sich einer wissenschaftlichen Beschreibung. Daneben brauchen wir, um Wissenschaft überhaupt betreiben zu können, weltanschauliche Rahmenbedingungen und es wird in Zweifel gezogen, dass man diese selbst wissenschaftlich erklären kann, weil hier eine gewisse Selbstbezüglichkeit ins Spiel kommt.

Das Hauptziel der Naturwissenschaften ist die Reduktion verschiedener komplexer Phänomene auf gemeinsame einfache Grundregeln. Damit gewinnt man in der Regel eine tiefere Einsicht in die Vorgänge. Die oben aufgezählten Dinge widersetzen sich aber hartnäckig einer Reduktion auf einfache Regeln. Man spricht hier von Emergenz. Das bedeutet, dass das betrachtete System neue Eigenschaften hat, die nicht unmittelbar aus den Eigenschaften seiner Bausteine abgeleitet werden können und umgekehrt auch nicht auf diese reduziert werden können. So ist z.B. die Reduktion von Bewusstsein auf die Bewegung und die Eigenschaften der beteiligten Elementarteilchen völlig undenkbar. Umgekehrt ist aber durchaus möglich, dass solche komplexen Phänomene von den Abläufen des Mikrokosmos her determiniert sind (Mikrodeterminismus). Aber auch hier können wir eine völlige Determiniertheit wohl weitgehend ausschließen, weil Phänomene auf der Ebene der Quantenmechanik zu völlig zufälligen Abläufen führen können. Nach Vollmer ist der Naturalist keineswegs auf den Reduktionismus angewiesen.

Es kann also durchaus sein, dass wir bei der Erklärung hochkomplexer Systeme auf die Grenzen einer wissenschaftlichen Erklärung stoßen. Die Frage an die Kritiker des Naturalismus ist aber, welche Erkenntnismethoden und Möglichkeiten sie der Wissenschaft entgegenzusetzen haben. Teile der Wirklichkeit, die den Naturwissenschaften womöglich für immer verborgen bleiben, können auch Theologie und Metaphysik nicht ergründen, denn sie verfügen nicht über bessere Erkenntnismethoden. Im Gegenteil, viele ihrer Glaubensgrundsätze und vermeintlichen Erkenntnisse haben sich mittlerweile als Irrweg herausgestellt. Dazu kommt, dass sie über Jahrhunderte hinweg unser Bild der Wirklichkeit vernebelt haben und teilweise sogar die naturwissenschaftliche Forschung behindert haben. Nach Vollmer gilt bei der Erkenntnis grundsätzlich „so wenig Metaphysik wie möglich“.

Naturwissenschaftlich Ungebildete bringen zuweilen das Argument, dass die physikalischen Theorien ja eben auch nur Theorien seien, deren Wahrheitsgehalt durchaus zweifelhaft sei. Daneben werde man in seiner Alltagserfahrung wohl kaum mit der Quantenphysik oder der Relativitätstheorie in Berührung kommen. Dabei übersehen sie, dass die inzwischen weit verbreiteten Navigationsgeräte Bauteile beinhalten, zu deren Entwicklung eine tiefe Kenntnis der Quantenphysik notwendig ist und dass in die Positionsberechnung, die in den Geräten durchgeführt wird, sowohl die Effekte der speziellen als auch der allgemeinen Relativitätstheorie eingehen, da ansonsten die Ergebnisse viel zu ungenau wären. Wenn es ein besonders überzeugendes Argument für den Naturalismus gibt, dann ist es genau dieses: Mit der Kenntnis der Naturgesetze können wir Apparate bauen, die tatsächlich in der Realität funktionieren. Im Gegensatz dazu hat z.B. nach wissenschaftlichen Studien das Beten keinerlei Wirkung.

Eine Liste geistiger Fehlschlüsse und Verirrungen

Am Ende der Schrift listet Vollmer zur besseren Übersichtlichkeit noch einmal alle die Dinge auf, die es für den Naturalisten nicht gibt und solche, die er als Pseudowissenschaften einstuft. Die erschreckend lange Liste ist ein Zeugnis der Vielfalt geistiger Verirrungen der Menschheit. Dazu gehören auch Dinge wie Seele, Willensfreiheit und ein objektiver Sinn des Lebens.

Bernd Vowinkel

Gretchenfragen an den Naturalisten von Gerhard Vollmer (September 2013) Alibri Verlag, Aschaffenburg, Preis: 5,- €, ISBN 978-3-86569-204-7

Das Buch ist auch beim Denkladen zu beziehen.