(hpd) Intuitiv haben wir Menschen das Gefühl, in einer statischen und perfekten Welt zu leben, die unseren Bedürfnissen entsprechend konstruiert ist. Während unserer individuellen Entwicklung benötigen wir so viel Kraft und Anstrengung, uns ihren Regeln anzupassen, dass wir kaum Zeit haben darüber nachzudenken, warum alles so ist, wie es ist und nicht aber ganz anders.
Die Idee der biologischen Evolution aller Lebewesen und der ihr zugrunde liegenden Mechanismen hat unser Bild der Welt und damit des Menschen und der eigenen Identität so tiefgreifend verändert, weil wir einsehen müssen, dass es kein Ziel gibt und wir kein Zweck sind. Diese Idee einer veränderlichen Welt geht auf viele Denker zurück. Die Mechanismen hinter der planlosen Evolution „Variation“ und „Selektion“ verdanken wir jedoch zwei kreativen Köpfen des 19. Jahrhunderts: Charles Darwin (1809-1882) und Alfred Russel Wallace (1823-1913). Letzterer steht trotz aller Bemühungen sein Werk bekannt zu machen immer noch im Schatten des ersteren, der quasi als Synonym für die Evolutionstheorie gilt. Im Jahre seines 100. Todestages soll sich das ändern und an den großen Beitrag des britischen Naturforschers und Überlebenskünstlers zu der Idee, die unser Weltbild verändern sollte, erinnert werden.
Ulrich Kutschera ist ein deutscher Evolutionsbiologe, der an verschiedenen Organismen erforscht, wie Evolution funktioniert und wie sie bewiesen werden kann. Die meisten Biologen untersuchen ihre Fragestellungen an einem Modellorganismus, wie der Fliege oder der Maus, der Ackerschmalwand oder dem Mais. Anders der in Kassel lehrende Professor: Er betrachtete schon Pflanzen, Eidechsen, Würmer, Schlammspringer oder Bakterien und steht damit auf einem breiten Fundament um die allen gemeinsam zugrunde liegenden Abläufe der Evolution zu zeigen.
In seinem aktuellen Buch „Design-Fehler in der Natur - Alfred Russel Wallace und die Gott-lose Evolution“ trägt der 1955 im Breisgau geborene Autor Fakten aus dem Leben des A.R. Wallace und aus der Natur zusammen um den britischen Forscher aus dem Schatten des C. Darwin zu holen.
Er stellt Wallace als einen Querdenker vor, der, anders als der um 14 Jahre ältere Darwin, ohne finanzielle Sicherheiten auf eine Reise ins Ungewisse aufbricht um die Artenvielfalt kennen zu lernen. Das nötige Kleingeld wollten er und sein Kompagnon Henry W. Bates mit Hilfe exotischer Tierkörper verdienen. Anscheinend hatte Wallace aber kein glückliches Händchen für Finanzen: Man erfährt in Kutscheras Buch, dass z.B. eine ganze Schiffsladung seiner bunten Ware im Meer verschwand oder, dass er Pech bei einer Art Wette mit einem „Flache-Erde-Kreationisten“ hatte, der Wallace mit Gerichtsprozessen an den finanziellen Ruin trieb.
In der etablierten Wissenschaftlerszene Londons des 19. Jahrhunderts wurde er aufgrund seiner mittellosen Herkunft nie richtig akzeptiert. Für Kutschera ist diese Unzufriedenheit mit dem Wissenschafts-Establishment DER herausragende Grund für Wallace Hinwendung zum Spiritismus, dem Glaube an Geister und spukenden Seelen verstorbener Menschen. Laut Kutschera brach er mit diesem parawissenschaftlichen Interesse selber mit den Etablierten der Royal Society und reagierte somit unmissverständlich auf ihre Arroganz. Kreationistischen Vereinigungen, wie dem Center for Science & Culture des Discovery Institute kam diese metaphysische Seite des großen Evolutionsbiologen sehr zupass, da sie meinen, in Wallace die Vereinigung aus Naturwissenschaft und Glauben gefunden zu haben und sich den Namen vor ihren Karren spannen.
U. Kutschera zeigt aber anhand vieler biografischer Einblicke, dass Wallace nicht religiös und erst recht nicht christlich war. Es gelingt dem Autor dank ausführlicher Recherche Wallace aus der parawissenschaftlichen Ecke herauszuholen und ihn für seine Beiträge für Biodiversitätsforschung, Artenschutz, Exobiologie und Evolutionsforschung zu ehren. Damit entreißt er den Jubilar erfolgreich dem intelligent design-Klammergriff.
Den anderen Teil seines Buches widmet Kutschera Beispielen von „Design-Fehlern“ der Natur um zu demonstrieren, dass unsere Umwelt alles andere als perfekt konstruiert ist sondern immer nur da mit limitierten Mitteln weitergebastelt und angeglichen wird, wo vorher schon etwas war. Kutschera demonstriert hier seine pädagogische Ausdauer, einen wahrhaften Kreationisten können diese vielen mühsam zusammengetragenen und ausführlich erklärten „Beweise für eine imperfekte Welt“ jedoch wahrscheinlich kaum überzeugen, da sie immer das Totschlagargument bringen werden: „Gottes Wege sind unergründlich!“
Woher Kutschera diesen langen Atem und seine Motivation her bezieht, erfährt man auch an vereinzelten Buchpassagen. Dennoch beschleicht den Leser mitunter ein Gefühl von Verschwörungstheorie und Panikmache, wenn es sich am Ende doch immer um die gleiche Handvoll ID-Vertreter in Deutschland handelt. Auf der anderen Seite werden Darwin, Wallace und die anderen üblichen Verdächtigen der „Evolutions-Kombo“ ein wenig zu stark zu Ikonen stilisiert, die über jeden Zweifel erhaben sind. Das Buch wiederholt sich an vielen Stellen, was es aber auch möglich macht, bestimmte Kapitel für sich durchzuarbeiten und quer zu lesen.
Viele Geschichten aus Wallace Biografie sind sehr spannend zu lesen und fügen sich zu einem interessanten Gesamtbild zusammen. Auch die Design-Fehler sind mitunter überraschend. Für Evo-Fans ist dieses Buch ein Muss, für Laien vielleicht etwas langatmig, fachlich und übertrieben. Dank der vielen Abbildungen bleibt es aber stets unterhaltsam.
Adriana Schatton
Design-Fehler in der Natur: Alfred Russel Wallace und die Gott-lose Evolution, Ulrich Kutschera, Lit Verlag 2013, ISBN: 3643121334, 19,90 Euro