(hpd) Nicht der Tod und nicht das Jenseits, sondern das Leben wurde mit Montaigne erstmals das Wichtigste in der Philosophie. Einer Philosophie ohne letzte Wahrheiten, entstanden in unsicheren Zeiten. Einer bescheidenen Philosophie eines Mannes, der es sich erlaubte, seine Überlegungen in alle erdenkliche Richtungen unterwegs sein zu lassen. Saul Frampton aus Oxford hat einen anschaulichen und poetischen Essay über diesen vorurteilsfreien Mann geschrieben.
Das Mittelalter war vorüber, gebildete Menschen waren damals Humanisten. Er hatte die Glaubenskriege zwischen Katholiken und Protestanten in Frankreich erlebt. Die verheerenden Folgen der seinerzeit noch gar nicht so lange bekannten Schusswaffen. Er war Bürgermeister von Bourdeaux gewesen und Diplomat, und nun hatte er sich auf das väterliche Landgut zurückgezogen und stellte in seiner Bibliothek im rustikalen Rundturm des Anwesens seine Betrachtungen an: Michel de Montaigne, geboren 1533, gestorben 1592. Er schrieb in seinen "Essais" über dies und jenes, vor allem über sich selbst und das Nächstliegende, seinen Freund, den Obrigkeitsverweigerer Étienne de La Boétie, zum Beispiel und die Freundschaft, seine Zeit und seine Sinneseindrücke, als Ausgangspunkt aller Gedanken. Ein Mann des Landadels - ein Gelehrter wollte er nie sein. Über diesen sympathischen Mann, einen der größten Philosophen Europas, hat der Engländer Saul Frampton einen wunderschönen, klug bebilderten Essay geschrieben. "Wenn ich mit meiner Katze spiele – woher weiß ich, dass sie nicht mit mir spielt? Montaigne und die Fragen des Lebens."
Was kann ich wissen, darum geht es – und eben doch nicht um letzte Gewissheiten. Das war das Neue an Montaignes Denken. Montaigne war ein Philosoph, dem es um das Leben ging. Erstmals in der europäischen Philosophie war einem Denker das Leben selbst wichtiger als alles andere, nicht das Jenseits, wie im Mittelalter, und das Leben auch nicht als Spanne, die auf den Tod hin gedacht wird. Damit überwand Montaigne selbst den Stoizismus der Humanisten seiner Zeit. Es ging ihm weder um ein ewiges Sein noch, wie später Descartes, um eine unabweisbare Wahrheit. Stattdessen durchzieht seine Betrachtungen ein sanfter Skeptizismus. Anstelle der Wahrheit setzt er das Vertrauen als höchstes Gut, dessen unabdingbare Voraussetzung die Nähe war. Alles um ihn herum war ihm der beobachtenden Reflektion wert.
Wenn ich mit meiner Katze spiele, woher weiß ich, dass sie nicht mit mir spielt? Haben Katzen eine Sprache? Haben Tiere eine Sprache? Der Landmann, zu dessen Zeit im Frühfranzösischen noch fast 50 verschiedene Wörter für Pferde existierten, je nachdem ob es sich um einen Karrengaul, ein Kriegsross, einen Jährling oder eine Mähre, Schimmel oder Falben, handelte, findet: ja. Denn wer sagt, dass Verständigung vor allem mittels Wörter und Grammatik stattfindet. Sie ereignet sich auch in den Bewegungen des Körpers. Damit lässt Montaigne die Humanisten, für die die Sprache der Grammatik und die Grammatik der Sprache alles war - konnte sich doch der Mensch mit ihrer Hilfe vervollkommnen und den Zustand der Erbsünde überwinden - weit hinter sich und geht noch einen Schritt weiter. Und der freie Wille? Ist er ein Spezifikum des Menschen? Wahrscheinlich auch nicht so richtig. Absichten haben genauso die Tiere. Sein Hund will immer dann mit ihm spielen, wenn es dem Philosophen am wenigsten passt – und der Philosoph lässt sich auf ihn ein und gibt nach.
Überhaupt lohnt es sich in vieler Hinsicht, sich noch einmal mit jahrhundertealten Texten zu befassen. Manche Debatte der Gegenwart erweist sich als älter, als man gemeinhin denkt. Zeichnet den Menschen nun die Vernunft aus - und worin besteht diese - oder die Sprache? Darum drehen sich noch heute die Argumente in der Diskussion um Ähnlichkeit und Unterschiede zwischen Mensch und Tier. So neu ist das nicht, findet Saul Frampton heraus. Für die Vernunft als Alleinstellungsmerkmal plädierte schon Thomas von Aquin, und so altmodisch war selbst der Kirchenvater nicht, um nicht zu erkennen, dass sie aus der Fähigkeit zu Erinnerung und Zukunftserwartung resultiert. Für die Sprache als nur dem Menschen spezifische Eigenheit entschieden sich selbstredend die Humanisten. Montaigne widerspricht beiden. Natürlich erinnere sich sein Hund und projeziere das Erlebte. Er hatte doch seinen schlafenden Hund beim Träumen beobachtet! Seine Katze tue im deutlich durch Blicke kund, worauf sie seine Aufmerksamkeit richten will.
Selbstverständllich behandelt Montaigne nicht nur Hunde und Katzen. Fliehen oder Standhalten, wenn in der Nähe mit der Arkebuse geschossen wird, lautet eine andere der sehr zeitgemäßen Fragen, die er sich stellt. … Das ist egal, meint er. Die Schusswaffen seiner Zeit waren so ungenau, dass dies tatsächlich die vernünftigste Haltung war.
Montaigne überlegt, was wohl die eben entdeckten Indianer über die Europäer dächten, und sinniert, dass sie bestimmt am meisten wundern würde, wie so viele einem doch an sich schwächlichen Herrscher Folge leisten, und sie sicher abgestoßen wären über die Ungleichheit der Menschen untereinander in Europa, wo die einen viel besitzen auf Kosten der anderen, die zu wenig haben.
Erstmals kam er der Wirkung der Einfühlung auf die Spur. Sich mit jungen Menschen zu umgeben halte gesund, zitiert er einen Arzt und fragt, ob nicht auch das Gegenteil der Fall sein könne – ob der Umgang mit Kranken selbst krank mache.
Aber die Nähe löse auch das Mitleid aus, und nur die Nähe erlaube es, den Aufrichtigen vom Unaufrichtigen zu unterscheiden. Religion ist für ihn, so Frampton, die Ausweitung des Gefühls von Nähe, des Sozialen, über den Raum der Sozialen hinaus.
In Italien schildert Montaigne den Pomp des Papstes bei seinen Audienzen und die Unterwürfigkeit, die er von seinen Anhängern erwartet. - Auch Montaigne hatte sich um eine Audienz bemüht, war ihm ordnungsgemäß zu Füßen gefallen und hatte sich von ihm, weil man dem Oberhaupt der Kirche nicht den Rücken zuwenden durfte, im umständlichen Rückwärtsgang aus dem Saal entfernen müssen. Er wohnt in Rom einer weltlichen Hinrichtung bei und ist abgestoßen von jenem Schauspiel. Generell äußert er sich in seinen Notaten auf seiner Italienreise viel freier als daheim in den "Essais" in Frankreich.
In seiner "Italienreise", teils von ihm, teils von seinem Diener verfasst, finden sich so ganz nebenbei auch zwei Gedanken, wie sie moderner nicht klingen könnten. Der eher klein gewachsene Landmann, der sich nirgendwo wohler fühlte als zu Pferde, kommt zu der Erkenntnis, dass Wahrheit ein Weg sei, kein Besitz. Und Glücklichsein ein Bei-sich-Sein.
Es gibt also viele Gründe, sich mit Montaigne zu beschäftigen, und einer der schönsten Weisen, sich ihm zu nähern, besteht darin, Framptons hoch literarischen Essay zu lesen.
Simone Guski
Saul Frampton: "Wenn ich mit meiner Katze spiele – woher weiß ich, dass sie nicht mit mir spielt? Montaigne und die Fragen des Lebens." Albrecht Knaus Verlag, München, 2013, 320 S. 22,99 Euro.