Ukraine

Was es noch zu sagen gibt (1)

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Fotos: © Daniel M. Porcedda

KIEW. (hpd) Information ist alles. Die Infohäppchen in deutschen und anderen EU-Medien erlauben nicht einmal eine grobe Übersicht über die Geschehnisse in der Ukraine. Dieser ausführlichere Artikel soll einige der Informationslücken schließen und eine andere, erweiterte Sicht auf die Lage in der Ukraine vermitteln.

Deshalb sind auch einige Aspekte enthalten, die in "unseren" Medien üblicherweise keine Erwähnung finden, aber essentiell sind, um verschiedene Zusammenhänge einordnen zu können. Es ist für EU-Bürger wichtig zu verstehen, was hier passiert, warum es passiert, und was danach passieren könnte. Es handelt sich um eine innere Angelegenheit der Ukraine UND der EU.

Die Ukraine steht am Scheideweg. Unvermittelt und für viele überraschend sind in diesem Land Demonstrationen ausgebrochen, die eine seit der Unabängigkeit nie dagewesene Dimension erreicht haben. Unvermittelt? Überraschend?

Was ist passiert?

Die Ukraine und die EU blickten voller Zuversicht dem Gipfel der Östlichen Partnerschaft (ÖP) entgegen, der in Vilnius Ende November mit der Unterschrift unter dem Assoziierungs-Abkommen (AA) seinen Höhepunkt zelebrieren sollte. Eine Woche vor dem Gipfel kündigte der ukrainische Präsident Janukowitsch an, das Abkommen nicht unterschreiben zu wollen. So weit, so bekannt.

Unverständnis, Kopfschütteln, Entsetzen allerseits. Ein Coup, der einem sechsjährigen Verhandlungsmarathon mit unzähligen Treffen und einem tausend Seiten umfassenden Übereinkommen ein jähes Ende bereitete. Der Sieg der Unvernunft über ... ja worüber eigentlich?

Multiple Interessen einiger wenigen Akteure

Janukowitsch, der Präsident - Er ist kaum präsidial, stattdessen führt er sich zaristisch auf. Sein feudaler Lebensstil sorgte vor allem in den vergangenen beiden Jahren für viel Unverständnis, das sich mittels satirischen Beiträgen und beißendem Spott in großen Bevölkerungsteilen Luft macht. Er und seine "Familie" sind in kürzester Zeit zu unermeßlichem Reichtum gelangt. Gleichzeitig sind die Reserven der NBU (Nationalbank der Ukraine) dramatisch zurückgegangen.

Ukrainische Oligarchen – Die meisten von ihnen stehen der regierenden Partei des Präsidenten nahe. Sie sind Profiteure einer korrupten Gerichtsbarkeit, die Partikular-Gesetze aus dem Ärmel schütteln kann, die auf spezifische Angelegenheiten anzuwenden sind und es dem Nutznießer erlauben, völlig "legal" einen Mitbewerber auszuschalten, oder eine Raiderattacke erfolgreich und ohne negative rechtliche Konsequenzen zu Ende zu bringen.

Putin – Die beiden letzten Jahre haben eine Aktivitätssteigerung von russischen Unternehmen in der Ukraine gezeitigt, die mit rasant untertrieben bezeichnet wäre. Insbesondere auf dem Bankensektor haben sich einige russische Finanzhäuser ausgebreitet. Die Raiffeisenbank hat ihre Aval Bank verkauft (oder verkaufen müssen?), der Käufer ist ein russisches Haus. Seit einigen Monaten werden auf der Krim massiv Gebäude aufgekauft und Nutzungsrechte für Grundstücke gesichert, von russischen Unternehmern. Die dort lebenderen Tataren beobachten dieses Vorgehen mit Argusaugen. Ein Konflikt scheint programmiert.

 

Kirchen - Welche Rolle die verschiedenen Kirchen in der Ukraine spielen, ist schwer zu durchschauen. Dass die politische und wirtschaftliche Macht der orthodoxen Kirchen in diesem Lande sehr groß ist, ist kein Geheimnis. Viele Grundstücke in teuersten Lagen gehen in Kirchenbesitz über. Kleine bis mittelgroße Kirchengebäude sind die letzten Jahre wie Pilze aus dem Boden geschossen. Die Geistlichen fahren teuerste Limousinen und frönen einem sehr gehobenen Lebensstil. Im Hintergrund der aktuellen Geschehnisse spielt sich ein Machtkampf zwischen der ukrainisch und der russisch orthodoxen Kirche ab. Der Einfluss der Kirchen auf die Präsidenten sowohl der Ukraine als auch Russlands ist groß.

Es gibt noch weitere Interessensgruppen, die jedoch im Vergleich zu den genannten weniger erheblich erscheinen und auch keine Einheit bilden, sodass deren Einfluss zu vernachlässigen ist.

Ein zweigeteiltes Land

Ost gegen West – im schlimmsten Sinne des Wortes. Die Partei der Regionen, des Präsidenten Janukowitschs Partei also, hat bewusst die Kluft noch ausgeweitet. Der unsägliche Sprachenstreit, Russisch versus Ukrainisch, war und ist immer noch eine Ablenkung vom Eigentlichen. Sprachen verbinden, üblicherweise. Hier werden Sprachen missbraucht, um ein Volk in zwei Lager zu spalten.

Das Eigentliche - abseits der Sprachen, die als Vehikel zum Transport für Animositäten herhalten müssen - ist die politische Grundausrichtung, für die die Ukraine sich entscheiden muss. Der Schwebezustand zwischen dem großen Bruder Russland und dem Paradiesgarten EU kann nicht dauerhaft sein. Und obwohl sowohl der große Bruder keiner ist als auch die EU weit von einem paradiesischen Zustand entfernt ist, wird die Ukraine sich einer dieser beiden "Ideologien" anschließen müssen. Im geopolitischen Niemandsland kann die Ukraine nach diesen Massendemonstrationen nicht länger verweilen.

 

Warum überhaupt muss sich die Ukraine für eine Richtung entscheiden?

Weil die Diplomaten auf russischer und auf EU-Seite all die Jahre nicht in der Lage waren, sich näher zu kommen und Kompromisslösungen zu finden, die in beiden Lagern Akzeptanz hätten finden können. Ein Dialog fand weder statt, noch wurde ein solcher ernsthaft versucht. Die Ukraine befindet sich in einer Zwickmühle, eingekesselt zwischen rückwärtsgewandter sowjetischer Nostalgie ("in der UdSSR musste niemand hungern") und vorwärtsgewandter europäischer Utopie ("in der EU hat jeder ein tolles Einkommen und mindestens ein Auto"). Für große Teile der ukrainischen Bevölkerung spielte sich der Konflikt auf solch einer Ebene ab. Vor einigen Jahren noch.

Es hat sich seitdem einiges geändert, vor allem während den letzten drei Jahren.

Die Zweiteilung der Ukraine ist künstlich heraufbeschworen oder zumindest bewusst aufgebauscht, unabhängig der historisch gewachsenen Kluft zwischen der Ost- und der Westukraine. Wie es in anderen Konflikten mit anderen Akteuren immer wieder zu beobachten ist: Die Vergangenheit gilt als Steigbügelhalter für nationalistische und sonstige Interessen von Machthabern.

Warum Menschen in der Ukraine demonstrieren

Wut und Angst treibt die Menschen zu den größten Protesten in der Ukraine seit der Unabhängigkeit des Landes vor 22 Jahren.

Wut

Wut über die persönliche Bereicherung einiger Wenigen in diesem Lande, die ihre Machposition zur Plünderung der Staatskasse missbrauchen. Die Ukraine ist faktisch pleite. In Kiew und anderen Städten haben Ärzte, Lehrer, Fahrer von öffentlichen Transportmitteln sowie andere Staatsbedienstete seit Monaten keinen Lohn erhalten.

Präsident Janukowitsch frönt derweil einem feudalen Lebensstil. Unvorstellbarer Luxus, der teils Monarchien aus vergangenen Zeiten in den Schatten stellt. Helikopter, eigene Zugwaggons, ein fürstliches Anwesen als modernes Pendant zum Versailler Schloss ... überbordender Luxus bis ins kleinste Detail. Die goldene Kloschüssel Janukowitschs, Lüster um die 100.000 USD pro Stück, Armbanduhren im sechsstelligen Dollarwert, einen eigenen Helikopterlandeplatz auf einem eigens errichteten großen Gebäude in der Nähe seines "Arbeitsplatzes" und und und. Bilder und Videos über den präsidialen Luxus kursieren im Internet zuhauf. Der "Tagessatz" des Präsidenten, also das, was Janukowitsch den ukrainischen Staat kostet, wurde vor kurzem von Journalisten auf 230.000 USD geschätzt. Nochmals: Täglich!

 

Auch der Premier Asarow ist bekannt für seine Vorliebe für schöne und vor allem teure Dinge des Lebens. Dazu noch einige andere im Dunstkreise des Präsidenten, in erster Linie diverse Minister, die den Begriff "Existenzminimum" wahrscheinlich nicht mal korrekt buchstabieren können, aber die teuersten Limousinen und Geländewagen fahren, in Luxuswohnhäusern leben die man problemlos auch als mittelgroße Hotels führen könnte. Der Innenminister soll in dieser Hinsicht als Referenz erwähnt werden.

Wütend machen ebenfalls all die kleinen Machtkämpfe um Posten und Pöstchen seit 2010, die vielen hier zu schaffen machen und nie Eingang in die westlichen Medien finden. Über alle Hierarchien hinweg wurden und werden Menschen entlassen, bedroht, verhaftet, verurteilt, bloß weil irgendwer aus des Präsidenten Partei der Regionen ein Auge auf eine Stelle in einem Amt geworfen hat, die jemand aus dem oppositionellen Lager innehat.

Wirtschaftsbetriebe erleben mittels Raiderattacken, durchgeführt von Parteigenossen des Präsidenten und tatkräftig unterstützt von staatlichen Stellen, brutale feindliche Übernahmen. Dann steht schon mal unvermittelt eine Truppe uniformierter und maskierter Männer im Büro, Kalaschnikow im Anschlag, herumbrüllend, Akten und Computer entwendend, Mitarbeiter einschüchternd. Vor der Fußball-EM 2012 fanden solche Übernahmen verstärkt statt. So wechselte eines der größten Hotels in Kiew in wenigen Minuten den Besitzer. Hotelmitarbeiter wurden zusammengeschlagen, der Direktor aus dem Haus gejagt, ein Gast angeschossen ... Operation erfolgreich. Das Hotel ist immer noch im Besitz des Raiders, der es jetzt auch offiziell in seinem Besitz hält, wobei die involvierten Behörden schnell und unbürokratisch agierten.

Parlamentarier oder Familienangehörige fahren mit überhöhter Geschwindigkeit und oft unter Alkoholeinfluss Menschen tot. Trotdem werden sie nicht mal in Polizeigewahrsam genommen, kein Gerichtsverfahren wird angestrengt, und Hinterbliebenen von Opfern wird keine Entschädigung zugesprochen.

Der Sohn des Gouverneurs der Stadt Mykolaiv zerrt zusammen mit zwei Freunden eine junge Frau in ein Auto, vergewaltigen sie, schlagen sie anschließend brutal zusammen, würgen sie und entsorgen sie im Glauben, sie sei tot, auf einer Baustelle. Sie werden später von der Polizei vernommen und wieder frei gelassen, ohne Anklage. Dieser Fall gelangte an die Öffentlichkeit (was selten passiert) und Bewohner der Stadt gingen auf die Straße, um die Vergewaltiger zu finden und zu lynchen. Woraufhin die Männer zu ihrem eigenen Schutz wieder festgenommen wurden.

 

Das Selbstverständnis, wie Regierungsmitglieder mitsamt Anhang betrügen, stehlen, quälen, morden, treibt vielen in der Ukraine die Zornesröte ins Gesicht. Darauf folgt die Ohmacht gegenüber Behörden, die vertuschen und kuschen.

Richter sind käuflich. In der Ukraine business as usual. Ist ein Richter mal nicht käuflich, oder wurde er von der "falschen" Seite bestochen, kann er schon mal Opfer eines tödlichen Autounfall werden.

Die Demonstrationen in Kiew hatten am 30. November frühmorgens einen traurigen Höhepunkt. Die Sondereinheit Berkut (übersetzt: Steinadler) stürmte den Platz der Unabhängigkeit, wo sich um diese Zeit nur wenige Menschen aufhielten, schlugen auf die übersichtliche Gruppe von Demonstranten ein, meist junge Studenten, einige nicht mal volljährig, luden einige davon in Einsatzwagen, wo weiter auf sie eingedroschen wurde, sperrten sie in Zellen, führten sie einem Richter vor. Vor Gericht ging die Odyssee weiter. Anwälte wurden grundlos und entgegen jeglichen gesetzlichen Bestimmungen des Gerichtssaals verwiesen; ein Anwalt wurde gar im Gerichtsgebäude zusammengeschlagen. Gegen die jungen "Delinquenten", deren Vergehen es war, auf dem Platz gestanden zu haben, - was durch das Versammlungsrecht in der Ukraine eigentlich geschützt ist - wurden zwei Monate Untersuchungshaft angeordnet, mit der "Aussicht" auf mehrjährige Haftstrafen. Nach erheblichem Druck der Öffentlichkeit wurden die meisten wieder entlassen. Sie mussten jedoch Strafe zahlen und gelten als vorbestraft. Einige der abgeführten Demonstranten werden immer noch vermisst. Niemand weiß, wo sich diese jungen Menschen jetzt befinden oder ob sie überhaupt noch leben. Studenten wurden also verhaftet, aber Mitglieder der Berkut und der Polizei blieben trotz Videobeweisen unbehelligt. Obendrein erhielten die uniformierten Beamten noch Prämien in Höhe von 500 USD, jeder einzelne.

Der Druck der Straße veranlasste den Präsidenten schlussendlich, der Menge ein Bauernopfer zu geben. Es waren sogar zwei. U.a. der Bürgermeister Kiews, Popow. Der Hauptschuldige an diesen Übergriffen, Minister Klujew, wurde trotz starker Beweislast freigesprochen und darf weiterhin sein Amt zum wirtschaftlichen Vorteil seines Bruders nutzen, der die größten Solarparks des Landes leitet, ein äußerst lukratives Geschäft seit der Einführung des "green tariff".

Während der bereits über fünf Wochen andauernden Demonstrationen in Kiew wurden über 50 Journalisten brutal zusammengeschlagen.

Sicher, es gab schon immer viele Missstände in der Ukraine. Doch seit 2010 ist eine Explosion an Untaten seitens Staatsbeamten nicht zu übersehen.

Die Ursachen zur Wut sind zahlreich. Die Wut vieler Bürger ist grenzenlos.

 

(wird fortgesetzt)