"Seine Identität selbst aussuchen"

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Arzu Toker, Foto: © Evelin Frerk

ASCHAFFENBURG. (hpd) Sie lebt seit 40 Jahren in Deutschland, das Wort "Migrationshintergrund" lehnt sie als Sprachakrobatik ab. Arzu Toker ist eine der Autorinnen, die der deutschen Gesellschaft Aufklärungsträgheit vorhalten, gerade wenn es um Fragen der Religion und insbesondere den Islam geht. In ihrem neuen Buch "Kein Schritt zurück" befasst sie sich mit Migration und Identität und daraus resultierenden Konflikten.

 

Im Zentrum ihres Interesses stehen dabei Frauen, die nach Freiheit streben. hpd sprach mit Arzu Toker über die Einwanderungsgesellschaft, die Rolle der Türken in Deutschland und die Suche nach Identität.

 

hpd: Ihr neues Buch enthält zwei literarische Texte über das Leben junger Frauen, deren Eltern nach Deutschland eingewandert sind. In beiden geht es um den Begriff von Freiheit, aber unter ganz unterschiedlichen Blickwinkeln. Sie haben die Türkei in den 1970er Jahren verlassen; was war damals Ihr Verständnis von Freiheit?

Arzu Toker: Ich war viel zu jung, um ein klares Bild von individueller Freiheit zu haben. Da ich von einer liberalen Familie komme, hatte ich keine Not. Ich wusste lediglich, was ich nicht wollte. Ich wollte auf keinen Fall traditionell bürgerlich leben. Ich bin wahrscheinlich auch eine der ersten Frauen, die ihre eigene Wohnung hatte, obwohl die Familie auch in Istanbul lebte.

Allerdings habe ich zwei Militärjuntas er- und überlebt, wobei während der ersten in den 1960ern der Ministerpräsident Adnan Menderes gehängt wurde und ein, wenn ich mich richtig erinnere, Student starb. Ich war noch ein Kind. Der Tod des Studenten wurde im ganzen Land betrauert. In der Schule wurde darüber gesprochen. Bei der zweiten Militärjunta 1971 wurden drei Studenten gehängt und viele starben unbekannten Todes, doch es gab keine Trauer – dafür aber Furcht. Meine Mutter schimpfte auf die Frauen, die vor dem Fernseher saßen, strickten und den Todesnachrichten der jungen Menschen zuschauten. Das tun sie, bis sie ihren eigenen Sohn im Bild sehen, sagte sie. Durch diese beiden Ereignisse lernte ich sehr früh, dass es eine politische Freiheit gibt, deren Verlust das Leben kosten kann. Und umgekehrt der Einsatz für die Freiheit bedeutet, selbstbestimmt leben zu können.

 

In "Die Balkonmädchen" findet sich zunächst die Zeile "Die Migration nahm ihre Fesseln", etwas weiter hinten heißt es dann, dass Migration auch knechten kann. Wann ist der eine Satz gültig und wann der andere?

Beide Aussagen sind zugleich gültig. Kulturen, die eng mit jahrtausendealten Religionen, Traditionen verbunden sind, werden oft als Fessel erlebt, schließlich ist keine Kultur selbst ausgesucht.

Menschen, welche die Courage haben, in ein anderes Land zu gehen, dessen Sprache sie nicht können, sind auch fähig, ihre kulturellen Fesseln abzulegen, neue Ideen aufzunehmen, andere Werte kennenzulernen und etwas Neues, Eigenes zu entwerfen. Eine bewusste Migration ermöglicht das Wachsen der Individuen über sich hinaus.

Aber Migration kann auch knechten in dem Sinne, dass die Menschen aus den unterschiedlichsten Gründen sich um so mehr an das Althergebrachte halten und dessen Normen so rigide handhaben, dass ihr Leben in selbstgebauter Knechtschaft endet. Diese Menschen leben nicht selbst, sondern sie werden gelebt. In diesem Sinne können sie geknechtet werden.

 

Auf dem Cover Ihres Buches ist Schahmaran zu sehen, eine mythische Figur. In welcher Beziehung steht sie zum Inhalt des Buches?

Schahmaran ist eine weise, friedliche Frau, eine heilbringende Frau, die, wenn sie stirbt, in ihrer Tochter weiterlebt. Auch in meiner Geschichte geht es um Mutter und Tochter allerdings in umgekehrtem Sinne. Ich habe an die Mütter gedacht, deren Töchter für die Ehre umgebracht werden. Ich habe an die Mütter gedacht, die den Tod ihrer Töchter mitbeschlossen haben oder deren Tod nicht abwenden konnten. Ich kann mir vorstellen, dass der mitverantwortete Tod der Tochter umgekehrt wie der eigene Tod gefühlt werden kann. Grausam, Tag für Tag mit diesem Tod leben zu müssen. Ich sehe darin eine spiegelverkehrte Analogie. Die friedliche Mutter lebt in der Tochter, die gewaltsam in oder mit der Tochter stirbt. Ich wollte mahnen, dass der Tod der Tochter auch der eigene Tod sein kann.

 

Nun beschreiben Sie in Ihrem Buch ja zwei Geschichten, in denen diese Weitergabe so nicht stattfindet, in denen es zum Konflikt über die tradierten Werte kommt. Und das nicht nur in konservativen Familien, auch die aufgeklärte, weltoffene Mutter scheitert, ihre Tochter wendet sich den Islamisten zu. Wie lässt sich dieser Generationenkonflikt verstehen?

Das ist nicht viel anders zu sehen als das Problem liberaler deutscher Eltern, deren Kinder zu Neonazis werden. Allerdings gibt es dabei auch migrationsbedingte Aspekte.

Türke in Deutschland zu sein, bedeutet oft: unattraktiv sein, auf der untersten Stufe der Skala der beliebten Migranten zu stehen. Das gefällt den Kindern natürlich nicht. Hinzu kommt, dass die Vorurteile der deutschen Gesellschaft gegen Türken gebildet werden aus den Schlagzeilen, welche die radikale türkische Minderheit erzeugt, aber es sind eben nicht alle radikal.

Die Kinder finden sich in den Vorurteilen nicht wieder und zeigen durch die Bejahung der Islamisierung eine Art Trotzreaktion. Jetzt erst recht, meinen sie. Wie sonst wollen Sie die verschleierten, aber stark geschminkten Mädchen mit enganliegenden Kleidern erklären, deren Körbchengröße sie schon aus zehn Metern Entfernung schätzen können?

Es gibt aber auch politische Hintergründe. Um es kurz zusammenzufassen: Die deutsche Gesellschaft ist nicht in der Lage, ihre Werte aufrechtzuerhalten und als eine Lebensgrundlage für alle Einwanderungen vorauszusetzen. Ganz im Gegenteil: Die eigenen Werte werden ignoriert und andere romantisiert. Zum Beispiel die Gülen-Bewegung: In der Türkei islamisiert sie den Staat, beherrscht die Polizei – hier wird sie hofiert, wohlwollend behandelt. Das Ergebnis ist: Frau Süßmuth sitzt in deren Beirat.

Sie haben über 300 Schulen, übernehmen die Aufgaben des Staates und nutzen die Schulen zur Gehirnwäsche. Sie bieten die Förderung von Gymnasiumbesuch, Stipendien, Studium in den USA, England etc. Sie übernehmen die elterlichen Pflichten zur Unterstützung von Minderjährigen. Sie haben ihre Leute bis hin in öffentlich rechtliche Anstalten platziert, die ihre Zöglinge bei Bedarf versorgen und unangenehme Nachrichten geschickt unterdrücken.

 

Läuft der Generationenkonflikt in Migrantenfamilien anders ab als in einheimischen? Und gibt es Unterschiede zwischen Jungs und Mädchen im Verhältnis zu ihren Eltern?

Die migrationsbedingten Unterschiede bewirken viel. Der türkische Junge ist als der Freund für die Tochter nicht so attraktiv wie einer aus England oder Finnland. Aber ich glaube, dass die Jungs je nachdem, in welcher Schicht sie leben, es nicht immer einfach haben. Das freie Leben, eine individuelle Entwicklung bleibt auch ihnen in traditionellen Familien versagt. Mit der Beschneidung werden sie für ihr Leben gebrandmarkt. Sie werden ihrer natürlichen Entwicklung beraubt.

Das Korsett der Traditionen gibt den Jungs zwar eine scheinbare Macht über die Frauen, macht sie aber gerade dadurch zu armen Wesen. Religiöse, traditionelle Familien erziehen ihre Söhne oft zu eigenen "Monstern", die eines Tages sie selbst zerstören oder eben eine Frau, die eigene Tochter, die Schwiegertochter.

Die Mädchen werden als Freundin auch oft mit Vorsicht genossen, weil einige denken, der Bruder kommt gleich um die Ecke.