"Seine Identität selbst aussuchen"

Sie schreiben im Nachwort auch darüber, dass eingewanderte Frauen in den 1960er Jahren freier waren als deutsche Frauen und dass sich das in nur etwa einem Jahrzehnt geändert hat. Was ist da falsch gelaufen?

Eine Frage, die ein Buch als Antwort bedarf. Sehen Sie, die deutsche Wirtschaft brauchte Arbeitskräfte, aber die Gesellschaft war noch nicht bereit, "Fremde" aufzunehmen. Deshalb hat man 1965 ein Gesetz für "Ausländer" gemacht, das dem heutigen Konflikten zugrunde liegt, d.h. die Planbarkeit des Lebens für die "Gastarbeiter" wurde unmöglich gemacht.

Ein Mensch, der sein Leben nicht planen kann, wird sich nicht ändern wollen, denn ansonsten wird er zum Fremden, wenn er zurückgeht. Noch in den 80ern gab es Prämien für Rückkehrer.

Dass zugezogene Menschen sich hier einleben, machte die deutsche Gesellschaft durch ihre Haltung zu ihren eigenen Werten sehr schwer. Den Eingewanderten konnten keine Werte klar und deutlich vorgegeben werden, die respektiert werden müssen und wo die Grenzen sind, wie zum Beispiel, dass Selbstjustiz hierzulande nicht möglich ist.

Religionsfreiheit ist ein Recht, Religionskritik kein Grund zum Mord, das Kinderschutzgesetz muss eingehalten werden, Frauen sind den Männern gleichgestellt usw.

Es gibt noch viele Gründe, auch politische und auch Gründe, die auf Seiten der Migranten liegen, aber ich schlage vor, ein ganzes Buch darüber zu schreiben.

 

Eine andere Ebene in den beiden Texten ist die Frage nach der Identität. Was ist das Problem für in Deutschland geborene Kinder türkischer Eltern?

Ich glaube, die Kinder haben damit erst einmal am wenigsten ein Problem, mit Identität. Die deutsche Gesellschaft hat sich ein Bild gemacht, wie Türken angeblich sind. Meist wird es bestimmt von denjenigen, die eine Minderheit unter Türken sind, aber derbe Schlagzeilen abliefern. Da fängt das Problem für diese Kinder an. Weil die deutsche Gesellschaft sich als Nation nicht in die Waagschale wirft, benennt sie andere stets national, um spiegelverkehrt doch das Eigene ins Bild zu setzen. Somit werden aus diesen Kindern Türken, weil sie zu den türkischen Eltern und einer bestimmten türkischen Identität verortet werden. Und das irritiert sie. Sie sind hier geboren und müssten eine Chance bekommen, sich für die hiesige Gesellschaft zu entscheiden.

Ich kenne türkische Familien, die ihre Kinder in englische Schulen in Deutschland schicken, weil sie ihre Kinder nicht erleben lassen wollen, dass sie als türkische Kinder sortiert werden, die schon einen bestimmten "Stempel" haben.

 

Sie sind als Religionskritikerin bekannt und vertreten in Ihrem Buch einen ausdrücklich antinationalen Standpunkt. Denken Sie, dass Menschen überhaupt eine kollektive Identität brauchen?

Ja, ich nehme einen antinationalen Standpunkt ein, weil ich die Nation als eine überholte Institution sehe. Größere Firmen sind alle international. Warum soll der kleine Mensch national sein? Die Nation hat der Menschheit mehr Kriege, siehe Ex-Jugoslawien, als Gutes gebracht, und das was sie brachte ist, aufgrund der technischen Entwicklung nicht mehr notwendig.

Kollektive Identität? Also die Kölner werden immer eine kölsche kollektive Identität haben, was jedoch ihre individuelle Identität nicht behindern wird. Es wird immer soziale Gruppen geben, die eine kollektive Identität haben werden wie zum Beispiel Bauern, Künstler. Aber diese Identität ist eine flexible Identität, die sich auch immerfort ändert, entwickelt.

 

Und die Kultur, in die wir hineingeboren werden?

Reines Zufallsprodukt. Können Sie etwas dafür, dass sie gerade in der Region Deutschlands geboren sind, wo Sie geboren sind? Es gibt keinen Menschen, der vorher bestimmt, in welche Nation er hinein geboren wird.

Je nach Verstand und individueller Stärke wird ein jeder sich damit auseinandersetzen. Die erste Kultur ist als eine Orientierung zu verstehen und man muss das dem Kind am Anfang seines Lebens so weitergeben, damit das Kind sich später Land, Leute, Identität selbst aussuchen kann.

 

Das Gespräch führte Martin Bauer.

 


Arzu Toker: Kein Schritt zurück. Aschaffenburg 2014. Alibri Verlag, 157 Seiten, kartoniert, Euro 12.-, ISBN 978-3-86569-166-8

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