WIEN. (hpd) Der Diskurs in Österreich wird nahezu obsessiv in der so genannten Integrationsdebatte beherrscht. Ein Projekt im 15. Wiener Gemeindebezirk versucht, die Debatte mit ungewöhnlichen Mitteln aufzugreifen und zu untersuchen, ob und wie sehr Jugendliche unterschiedlicher kultureller Herkunft wirklich aneinander vorbeileben. Und bietet ihnen eine Plattform, Probleme anzusprechen.
Vielleicht spiegelt sich nirgends die Fragmentierung der österreichischen Gesellschaft so sehr wieder wie im 15. Wiener Gemeindebezirk. Der Bezirk ist vorwiegend proletarisch. Aufwertungsprojekte rund um den Meiselmarkt nähren die Befürchtung, die Bezirksverwaltung könnte eine – wenn auch ungewollte – Gentrifizierung vorantreiben. Oder zumindest den raren öffentlichen Raum in diesem dicht besiedelten Stadtgebiet kommerziellen Projekten opfern, die Geld in die Stadtkasse spülen sollen.
Bruchlinien vervielfältigen sich
Soziale Konflikte treffen hier so häufig auf kulturelle und ethnische Trennlinien wie nirgends sonst in Österreich. Von knapp 74.000 Einwohnern des Bezirks haben knapp 36.000 mindestens einen Elternteil, der nicht im Land geboren wurde oder sind selbst irgendwo anders zur Welt gekommen. 26.000 haben nicht die österreichische Staatsbürgerschaft.
Das ist die höchste Migrantenquote Wiens. In einem Land, dessen Bevölkerung die Migrantionsfrage nahezu obsessiv diskutiert, wird das als konfliktträchtig empfunden.
Grenzen sich in anderen Bezirken Wiens soziale Milieus zunehmend voneinander ab, vervielfältigen sich hier die sozialen Bruchlinien durch die hohe Dichte unterschiedlicher Kulturen. Auch die Migranten sind alles andere als eine homogene Gruppe.
“Migranten” sind keine einheitliche Community
Das Café auf der Hütteldorfer Straße, der Einkaufsmeile des Bezirks, in dem der Autor die Philosophin Lisz Hirn trifft, präsentiert sich im gehobenen und durchaus ansprechenden Balkanschick. Ein kurzer Blick weist es als kroatisches Lokal aus. Am Nebentisch liegt die Boulevardzeitung “Vecernij List”, ein Blatt im Eigentum des Styria-Verlags, der wiederum der katholischen Diözese Graz-Seckau gehört.
Gäste ohne kroatische Wurzeln sind hier die Ausnahme. Serbische Jugendliche werden hier vermutlich nicht ihre Samstagabende feiern. Nach einem ungeschriebenen Gesetz sind die meisten Lokale mit Besitzern aus dem ehemaligen Jugoslawien ethnisch segregiert. Wiewohl auch dieses ungeschriebene Gesetz an seine Grenzen stößt. Die Kellnerin hat hörbarerweise serbische Wurzeln.
“Wenn man in der Nacht Gruppen von Jugendlichen sieht, sind die häufig ethnisch getrennt”, schildert auch Hirn. Aus der Beobachtersituation sei die Situation chaotisch “In diesem Bezirk weiß keiner, wo der andere herkommt. Das schafft die Herausforderung, wie man mit dieser Vielfalt interagieren kann.”
Hinter dem Meiselmarkt im 15. Wiener Gemeindebezirk, Foto: © Christoph Baumgarten
Integrationsgesetze massiv verschärft
Für die ethnische Segregierung trägt auch die österreichische Politik des vergangenen Jahrzehnts Verantwortung. Sie hat es für Migranten enorm erschwert, die österreichische Staatsbürgerschaft zu erlangen. Und damit wenigstens auf dem Papier als gleichberechtigte Einwohner des Landes zu gelten. Wurden im Jahr 2003 fast 45.000 Menschen österreichische Staatsbürger, waren es zehn Jahre später nur etwas mehr als 7.000.
Allein die hohen Einkommenshürden für die Staatsbürgerschaft schließen nach Schätzungen um die 30 Prozent aller Migranten aus. Im 15. Gemeindebezirk alleine wären das fast 8.000 Menschen. Das dürfte eher die Untergrenze sein. Die Durchschnittseinkommen sind hier sehr niedrig. Die Zahl der Migranten ohne Aussicht auf einen österreichischen Reisepass dürfte deutlich darüber liegen.
Politik schafft Fremde im eigenen Land
Eine Situation, von der auch Kinder und Jugendliche betroffen sind. Österreich hat ähnlich wie Deutschland bis Rot-Grün eine “Ius sanguis”. Als gebürtiger Österreicher gilt nur, wer bei der Geburt mindestens einen Elternteil mit österreichischer Staatsbürgerschaft hatte. Hier geboren zu sein und aufzuwachsen ist keine Garantie für rechtliche Gleichberechtigung.
Wie hoch die Hürden auch für hier Geborene sind, zeigt die Wiener Einbürgerungsstatistik. Laut den aktuellsten zugänglichen Daten wurden 2012 nur 771 Menschen “eingebürgert”, die im Land geboren sind. Das dürfte bestenfalls ein Zehntel der Kinder sein, die jährlich ohne österreichische Staatsbürgerschaft in der Bundeshauptstadt auf die Welt kommen.
Die Gesetze schaffen jährlich tausende Fremde im eigenen Land.
Das dürfte zusätzlich beitragen, kulturelle Trennlinien unter Jugendlichen zu schaffen. Wer die Erfahrung macht, dass er keine realistische Chance hat, dazuzugehören, obwohl er hier geboren und aufgewachsen ist, wird die zugeschriebene Identität des Fremden sehr wahrscheinlich als seine eigene annehmen.
Unterrichtsministerium fördert interkulturelle Projekte
Was die eine öffentliche Stelle anrichtet, versuchen andere auszubügeln. Das Unterrichtsministerium fördert etwa das Projekt Vielfalter. Es unterstützt Projekte, die Mehrsprachigkeit und kulturelle Vielfalt unterstützen. Freilich unter dem Diktat der leeren Kassen. Ohne Sponsoring des Finanzdienstleisters Western Union wäre die Initiative unmöglich.
Eines der Projekte mit dem Titel Kennen_Lernen soll sich speziell mit den Jugendlichen im 15. Wiener Gemeindebezirk befassen. Es läuft in zwei Wochen an. “Wir versuchen, die Kommunikation unter den Jugendlichen zu fördern”, beschreibt Projektleiterin Lisz Hirn.
“Dinge ansprechen, die ungesagt bleiben”
Der Ansatz ist ungewöhnlich. Hirn und Projektpartner Nikolai Friedrich, ein Kulturanthropologe, setzen niederschwellige Kunst ein. Ein mobiles Büro in einem Transportbus lädt auf öffentlichen Plätzen in der Nähe von Schulen zum Dialog ein: “Die Jugendlichen können dann unter anderem kleine Nachrichten auf Zetteln auf Hocker kleben, die wir mitbringen. Die finden dann andere Jugendliche und können darauf antworten.” Unterstützt wird das mit einem eigenen Social Media Account, das die Teilnehmer ebenfalls für improvisierte Diskussionen nützen können.
“So wollen wir zeigen, dass Botschaften weitertransportiert werden und nicht einfach verschwinden.” Die relative Anonymität soll anregen, Dinge anzusprechen, die im Allgemeinen nicht ausgesprochen werden. “Deshalb wollen wir das Projekt auch mit Jugendlichen machen. Die sind im Umgang direkter und rauer, Konflikte sind mehr an der Oberfläche”, sagt Hirn, die einige Erfahrung mit Jugendprojekten hat.
Ein Projekt gegen das Schweigen, aus dem sich zahlreiche Konflikte speisen. “Damit wollen wir Schülern helfen, dass sie interkulturellen Dialog als Werkzeug einsetzen können, um Konflikte zu lösen und Gewalt zu vermeiden.”
Nikolai Friedrich und Lisz Hirn präsentieren den Slogan des Projekts. Foto: © Nikolai Friedrich
Veranstaltungen auf öffentlichen Plätzen
Bislang nehmen vier Schulen an dem Projekt teil, vom Gymnasium bis zur Berufsschule. Auch eine Privatschule nimmt teil. Eine fünfte hat Interesse bekundet. Womit ein sozialer Mix gegeben ist, den Hirn für eine Voraussetzung für den Erfolg des Projekts hält.
Die Schüler nehmen freiwillig teil. Die Aktionen selbst werden nicht direkt an den Schulen stattfinden. “Wir machen das bewusst an nahe gelegenen öffentlichen Plätzen, damit wir auch Passanten einladen können, sich am Dialog zu beteiligen.”
Mittelaufstellung schwierig
Was genau auf sie zukommt, weiß sie nicht. “Wir gehen sozusagen unwissend in die Dialogsituation mit Jugendlichen. Das ist in dem Fall sogar von Vorteil, weil es keine Informationsschieflage gibt.”
Die größte Hürde zu Beginn war es, das Geld für das Projekt aufzustellen. Mit der Förderung von der Initiative Vielfalter wäre es nicht getan gewesen, sagt die Projektleiterin: “Den Transportbus und die Hocker könnten wir uns kaum leisten.” Hirn und Friedrich gelang es, den Fahrzeugverleiher “share me” und den Möbelhersteller GEA als Sponsoren zu gewinnen. Der öffentliche Sparzwang bringt auch politisch ausdrücklich erwünschte Projekte in prekäre Situationen.
Herausforderung Jugendsprache
Eine Herausforderung anderer Art wird die Jugendsprache sein. “Auf einem Streifzug durch die Gegend haben wir eine Mauer mit dem Schriftzug ‘Du Opfer’ gesehen. Wir haben nicht verstanden, was das genau heißt, wie Jugendliche dieses Wort wirklich verwenden. Es ist klar, dass das Wort eine negative Bedeutung hat. Aber ich hoffe, dass mir das die Teilnehmer genauer erklären können.”
Ein Erlebnis, das mitverantwortlich für den Slogan sein dürfte: “Krasse Kultur! Du Opfer?”
“Das ist auch eine Suche”
Bis zu einem gewissen Grad kann Kennen_Lernen auch als Forschungsprojekt verstanden werden. “Vielleicht stellt sich ja bei vielen Situationen heraus, dass wir Konflikte reininterpretieren, die einfach medial transportiert werden, aber so von niemandem gesehen werden”, sagt Hirn. “Das ist auch eine Suche.”
Abgeschlossen wird Kennen_Lernen mit einer Ausstellung im Juni. Die wird vielleicht auch Aufschluss geben können, welchen Beitrag Kunst und Philosophie leisten können, die Welt im Alltag der Menschen ein kleines Stücken besser zu machen.
Christoph Baumgarten