Leidenschaftlich klar

MARBURG. (hpd) Peter Baumanns Buch über die Freiheit zum Sterben ist aus den teilweise als Rechtfertigung abgefassten, schonungslos deutlichen Text “Suizid und Suizidhilfe – Eine neue Sicht” des Schweizer Psychiaters hervorgegangen.

Baumann gab mit 67 Jahren seinen Beruf auf, nicht etwa, um ein angenehmes Rentnerdasein zu genießen, sondern um sich, mehr als bereits zuvor, Menschen zu widmen, die sich aus Verzweiflung den Tod wünschen. Hierbei trat er immer wieder als Pionier auf, der auch riskierte, die Grenzen des offiziell Erlaubten zu überschreiten. Dafür bezahlte er mit quälenden, sich über neun Jahre hinziehenden Ermittlungen und Gerichtsverhandlungen und schließlich der Verurteilung zu vier Jahren Gefängnis wegen vorsätzlicher Tötung. Diese Strafe wurde dem 75-Jährigen 2010 auf Grund der Begnadigung durch den Basler Grossen Rat erlassen. Ein halbes Jahr später wurde bei Peter Baumann ein bösartiger Nierentumor festgestellt, dessen Folgen er im April 2011 erlag.

Den eigenen Tod vor Augen ging Baumann zusammen mit Jakob Weiss, einem freischaffenden Sozialwissenschaftler und Freund, daran, sein Buch gründlich zu überarbeiten, um der Nachwelt seine Vorstellungen und Erfahrungen als Vermächtnis zu übermitteln. Weiss, unterstützt durch Baumanns Familie, hat diese Aufgabe nach Baumanns Tod zu Ende gebracht. Herausgekommen ist ein ungemein lesenswertes Buch, das eindrücklich und authentisch Menschen, die ihrem schrecklichen Leiden ein Ende setzen möchten, und ihren oft einsam agierenden Helfer vor Augen führen. Ergänzt wird dies durch instruktive kurze Texte über Peter Baumann als Mensch, als Arzt und als Kämpfer für Suizidhilfe, wobei auch das Gerichtsverfahren genauer beleuchtet wird. Ein einziger relevanter Fehler im Buch: Die Zeiten, in denen jemand von der DGHS (Deutsche Gesellschaft für Humanes Sterben) Zyankali “als Methode eines sanften Suizids gelobt” hat, sind glücklicherweise längst vorbei.

Welche Situationen Baumann erlebte und wie er seine Entscheidungen traf, erfährt man aus gut 20 Fallbeispielen. Die Personen, die mit Baumanns Hilfe ihr Leben beendeten, waren zwischen 34 und 80 Jahre alt und hatten schwere körperliche Gebrechen bis auf einen Fall von Zwangsneurose, in dem das Gericht die Einsichtsfähigkeit des Patienten als nicht gegeben sah (weshalb dann Baumann verurteilt wurde). In mehr als der Hälfte dieser Fälle half Baumann nicht, den Suizidwunsch erfüllen. Teils durfte er dies nicht, obwohl ihm schmerzlich klar war, wie belastet das Weiterleben dieser Menschen war und wie gering ihre Aussichten waren, jemals aus ihrem Unglücklich-Sein noch einmal herauszufinden. Teils wollte er nicht helfen, weil er diese Menschen nicht für “reif zum Suizid” oder wirklich entschlossen hielt. Manchmal gelang es ihm, ihnen durch die Gespräche zum Weiterleben zu helfen. Immer wieder unterstreicht Baumann, dass “…der prophylaktische Effekt eines unverstellten Weges zum guten, begleiteten Suizid stärker ist als jeder Verführungseffekt.”

Baumanns Anliegen lautet ganz allgemein, “dass wir über die Angst vor dem Tod hinauswachsen, um frei leben zu können.” Dies bedeutet nicht zuletzt, dass nach dem Tod nichts kommt, wovor man sich fürchten müsste; aber auch, dass man in Ruhe dem Tode entgegen leben kann, wenn man weiß, dass und wie man eines Tages seinem Leben gegebenenfalls ein Ende setzen kann. Und: er möchte, dass wir uns dagegen wehren, “dass Justiz und Medizin uns unter fragwürdigen Vorbehalten die Urteilsfähigkeit absprechen können, wenn es um das selbstbestimmte Sterben geht.” Es sei nicht recht, wie meistens mit Menschen umgegangen wird, die sterben wollen, “vor allem wenn der Wunsch psychisch begründet ist.”

Also eine klare Kampfansage an seine eigene “Zunft”, die Psychiatrie, genauer: an die hier noch immer vorherrschende Sichtweise. Baumann bringt sie folgendermaßen auf den Punkt: “Wer suizidal ist, ist depressiv; Depressive sind psychisch krank; psychisch Kranke sind behandelbar oder nicht urteilsfähig und haben somit das Recht auf einen anständigen Suizid – auf Wunsch im Beisein eines Begleiters – verwirkt.” Die Grenze zwischen psychiatrischer Kompetenz und psychiatrischer Anmaßung bleibt ein schwieriges Thema, und Bauman selbst scheint das auch zu spüren: “Beide Entscheidungen, Beihilfe zum Suizid oder Verweigerung der Behilfe, sind gleich schwer zu verantworten, sei es nun im Einzelfall oder im Grundsatz.”

Auf Baumanns Einsichten und Ansichten entgegnete einmal die Verbandspräsidentin schweizerischer Psychiater laut Neuer Zürcher Zeitung (25.1.2004): “In den Praxen von Psychiatern dürfe nicht zum Tod geraten, in den Praxen von Psychiatern müsse fürs Leben eingestanden werden…. Was Baumann tue, sei eine Anmassung.” Mit solchen Aussagen lenkt man allerdings davon ab, dass [nach Ansicht des Rezensenten] die Kriterien, anhand derer psychiatrische Diagnosen erstellt werden, großenteils weit weniger genau sind als die in anderen Bereichen der Medizin. Bei der Frage, ob denn auf jemand, der aus nachvollziehbaren Gründen deprimiert ist, auch die Diagnose “depressiv” passt, wird man sich oft nicht so sicher fühlen dürfen wie etwa beim Befund “schwanger”.

Immer wieder hat Baumann, der viel mit Exit kooperierte, erlebt, dass Menschen mit erheblichen psychischen Schwierigkeiten (wie auch andere, die nicht an einer zum Tode führenden Erkrankung leiden) keine Chance auf Hilfe durch Sterbehilfeorganisationen haben, da psychiatrische Gutachten in diesen Fällen darüber hinweggehen, wie aussichtslos und entsetzlich die Lage der Betreffenden ist, und diese zum Weiterleben geradezu verurteilen. Seine radikale Konsequenz: Er beschreibt in geradezu brutaler Nüchternheit auf 14 Seiten fast alle Varianten der Selbsttötung, vom Sich-Erhängen bis zum Sterbefasten, und geht auf die damit verbundenenen Probleme ein.

Diese Möglichkeiten, sich ohne Hilfe durch einen Arzt oder eine Sterbehilfeorganisation das Leben zu nehmen, sind entweder grausam, oder zumindest unschön. Manche sind riskant (also nicht ganz sicher) andere, z.B. die bewährte Helium-Methode, ziemlich Technik-lastig. Wollen wir uns also damit abfinden, dass für viele leidende Menschen nur diese Möglichkeiten bleiben oder wollen wir, dass in Zukunft mehr Sterbewilligen – auch solchen mit psychischen Krankheiten - ein humaneres Sterben wie z.B. durch Einnahme von Pentobarbital ermöglicht wird? Dies ist eindeutig Peter Baumanns Wunsch, auch wenn er sich nicht der schwierigen Aufgabe unterzieht, konkrete Änderungen an den rechtlichen Regelungen für die Abgabe von Tötungsmedikamenten vorzuschlagen. Andererseits sieht er für ältere Patienten im Sterbefasten die Chance, “… dass wir mit dem breiteren Wissen [darüber] und einer entsprechenden Praxis einen kostbaren Teil einer Sterbekultur schaffen. Das heisst: Die rechte Zeit zum Sterben spüren lernen.”

Sein Credo formulierte Baumann einmal so: “Lassen wir Leben freiwillig sein, und es lässt sich aus dem Vor-sich-hin-Leiden kein Kapital mehr schlagen.” 2004 schrieb die NZZ über ihn: “Schon …. Anfang der siebziger Jahre fordert Baumann ein allgemeines Recht auf den Suizid, es ist ihm das Fundament einer trotzigen Freiheitsidee, einer Existenzialphilosophie, die den Menschen zur finalen Mündigkeit führt - so hat er sich das ausgedacht.” Das allerdings klingt fast so, als könnten normale Menschen Baumanns Vorstellungen nicht folgen. Wer jedoch das Buch gelesen hat, kann das sehr wohl. 

 


Peter Baumann, Die Freiheit zum Sterben: Menschliche Autonomie am Ende, Chronos, 2014, ISBN 3034012462, 23,00 Euro