Glaube, Liebe oder Hoffnung?

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Park am Gleisdreieck
Park am Gleisdreieck

KÖNIGSWUSTERHAUSEN. (hpd) Der Autor, Rainer Buchheim, berichtet unter dem Eindruck einer Lesung von Michael Schmidt-Salomon aus dem Buch “Hoffnung Mensch” über seinen persönlichen Weg zum Evolutionären Humanismus.

 

“An irgendwas muss der Mensch doch glauben”, pflegte meine Mutter zu sagen – und schickte mich ein Jahr nach meiner Jugendweihe zur Konfirmation. Ich liebte sie und tat ihr den Gefallen, vielleicht auch in der Hoffnung auf ein paar zusätzliche Geschenke.

Dabei war die Frau keineswegs besonders fromm, wohl eher pragmatisch, denn ihre zweite Begründung für dieses Ansinnen lautete: “Wer weiß – wenn’s mal andersrum kommt…” Ob sie dies befürchtete oder hoffte, ließ sie offen. Ein gesunder Pragmatismus war durchaus angezeigt in jener Nachkriegszeit im Osten. Außerdem hatten die Eltern, geboren ein paar Jahre vor dem ersten Weltkrieg, einige bittere Wenden, Krisen, Zusammenbrüche und die Entwertung vermeintlicher Werte erlebt. Dass sich Mutters Prognose erfüllte, erlebte sie leider nicht mehr.

Vater indes hatte, nachdem er kurz vor meiner Zeugung mit halbwegs heiler Haut aus russischer Kriegsgefangenschaft heimgekehrt war, die Nase gestrichen voll von Heilslehren und Ideologien aller Art. Daher lag es ihm fern, mich in irgendeiner Richtung irgendwie zu beeinflussen. Einerseits bin ich ihm dafür dankbar – er ließ mich meine Fehler selber machen – andererseits wäre ein Diskurs über die Frage, warum man einer herrschenden Ideologie verfällt, für mich möglicherweise hilfreich gewesen. Aber daran war wohl auch ich damals zu wenig interessiert.

Ich hatte also die Wahl zwischen christlicher Religion und sozialistischer Ideologie. Im Verlaufe meiner Oberschulzeit erschien mir die marxistische Weltanschauung, die man sogar als wissenschaftlich apostrophierte, einfach plausibler, wirklichkeitsnäher und gerechter als jener Kinderglaube an einen himmlischen Vater, zu dem man nur fleißig beten müsse und alles würde gut.

Trotz Mauer gab es weitere, vielfältige Einflüsse: John Lennon, Flower-Power und die Achtundsechziger prägten unser Lebensgefühl nachhaltiger als der Obrigkeit lieb war. Aber sie waren halt weit weg. Und als sich Letztere in den Siebzigern polarisierten, die einen ihren Marsch durch die Institutionen antraten und die anderen in die RAF abrutschten, waren sie für mich fernen Beobachter ohnehin gestorben. Ich rutschte meinerseits ab ins Fahrwasser der Politbürokraten. Erst viel später erkannte ich, dass das, was ich für meine Überzeugung hielt, auch nicht mehr war als ein Glaube, “Glaubensgewissheit” mit dem Brett einer quasireligiösen Ideologie vorm Kopf.

Nach Wende und Anschluss war auf einmal alles nicht mehr wahr, die Diktatoren hinweggefegt, die Ideologen frisch gewendet. Und schon tauchten in all den Wirren wieder Leute auf, die die Wahrheit gepachtet hatten. Kleriker brüsteten sich damit, eine friedliche Revolution herbeigeführt zu haben. Dabei hatte die Amtskirche beider Konfessionen ein wohlgeordnetes Verhältnis zu den DDR-Oberen gepflegt, sich bei drohenden Konflikten allenfalls weggeduckt. Einzelne mutige Pfarrer waren es gewesen, die der Opposition ein Obdach gewährt hatten. Und was als Aufbruch begonnen hatte, mündete schließlich in die Restauration althergebrachter, zum Teil längst überwunden geglaubter Denkschemata.

Sollte ich mich nun etwa nach dem Totalverlust einst für unumstößlich gehaltener “Wahrheiten” an die Hoffnung auf einen allmächtigen lieben Gott klammern, so wie es eine Art Mainstream in den öffentlichen Medien suggerierte? Nein, mit geistiger Anpassung musste ein für allemal Schluss sein, zumal jener Gott selbst in seiner dreifaltigen Ausfertigung unmöglich allmächtig und gleichzeitig lieb sein konnte. Aber warum hängen dann so viele durchaus intelligente Menschen in unserem aufgeklärten Zeitalter Religionen an?

Also machte ich mich auf die Suche nach der Nadel im Heuhaufen des Angebots von philosophischem, pseudophilosophischem, religiösem, ideologischem und esoterischem Kram, auf die Suche nach Gedanken kluger Leute, die weder Heilsphantasien predigen noch einer irrealen Erwartung gesetzmäßigen Fortschritts frönen, auf die Suche nach einer wirklichkeitsfundierten Weltsicht. In einem bekannten Nachrichtenmagazin stieß ich dabei eher zufällig auf ein Interview mit Richard Dawkins, worauf ich sein Buch Der Gotteswahn geradezu verschlang. Hier schrieb einer unverblümt, was ich empfand und was sich mit meinen Erfahrungen christlicher Glaubens“vermittlung” deckte. Über den Anmerkungsapparat dieses Werkes und mit Hilfe des Internets fand ich auch zu einschlägigen deutschen Autoren wie Franz Buggle, Andreas Kilian, den großen Karlheinz Deschner, Heinz-Werner Kubitza, Rolf Bergmeier, Uwe Lehnert und nicht zuletzt Michael Schmidt-Salomon – Autoren, die einem in deutschen Buchhandlungen und öffentlichen Bibliotheken leider noch immer nicht ohne weiteres in die Hände fallen. Die Liebe zur Weisheit, meine Hoffnung, dass doch etwas Brauchbares zu finden sein müsste und der Glaube an das Vorhandensein von etwas Wahrem, Gutem und Schönem hatten mich nicht getäuscht. Über das Manifest des evolutionären Humanismus fand ich zur Giordano-Bruno-Stiftung, ihrem Förderkreis und den Evolutionären Humanisten Berlin-Brandenburg. Ich lernte wunderbare Menschen kennen und entwickelte eine für mich zum Teil neue Sicht auf die Welt: Eine Weltanschauung, die darauf beruht und dazu einlädt, sich die Welt genau anzuschauen, nicht nur die für unsere Sinne unmittelbar erfahrbare, sondern auch die ganz kleine, subatomare, ebenso wie die ganz große, kosmische. Und wer sich darauf einlässt, dem eröffnen sich so atemberaubende Einsichten wie sie auch die abgefahrenste Mystik nicht zu bieten hat.

Freilich ist dieses Universum unverschämt groß und wahnsinnig komplex – ist doch ein jeder von uns selbst schon ein kleines Universum. Vieles ist nur schwer oder gar nicht zu fassen, weder im wörtlichen noch im übertragenen Sinne. Um sich darin zurechtzufinden, kommt man mit der Wünschelrute nicht weit, da braucht es schon einen Kompass, dessen Nadel sich am natürlichen Magnetfeld orientiert. Selbstverständlich können wir nicht alles wissen, vieles glauben wir erst mal. Damit ist nicht der Glaube im religiösen Sinne gemeint, der sich auf sogenannte Glaubensgewissheiten stützt – allein das Wort ist ein logischer Widerspruch in sich. Dieser Glaube beantwortet keine Fragen, schlimmer noch: Er verbietet, Fragen zu stellen. Solcher Glaube ist zementiertes Unwissen. Nein, wenn wir glauben, dann im Sinne der wissenschaftlichen Hypothese, des Noch-nicht-genau-Wissens aber begründeten Vermutens.

Zum Beispiel glauben wir an die Liebe unter den Menschen, selbst wenn uns das wegen des Verhaltens etlicher unserer Artgenossen zuweilen schwerfällt. Auch hier sei vor der Liebe im religiösen Sinne gewarnt: Sie umfasst allenfalls die sogenannte Nächstenliebe, die nur allzu oft die Zuneigung zum Ferneren verweigert. Sie meint den Liebeswahn zu einem imaginären höheren Wesen, zu allem Überfluss von diesem selbst gefordert. Die biologisch begründete, natürliche menschliche Liebe ist ihr gleichzeitig in höchstem Maße suspekt. Nein, die Erkenntnisse über uns selbst als empathiefähigste Tierart, die die Evolution hervorgebracht hat, erlauben uns die Hoffnung auf Menschenliebe über Gruppen-, Nationen-, Religions- und ethnische Grenzen hinweg.

Auch dies ist keine Hoffnung im religiösen Sinne, welche eher ein irrationales Wünschen, eine meist auf ein konstruiertes Jenseits gerichtete Heilserwartung ist, oft verbunden mit der Abkehr von den diesseitigen Herausforderungen. Nein, solches Hoffen und Harren sollte uns nicht zu Narren machen, denn unsere Hoffnung, unsere begründete Erwartung basiert auf der Erfahrung, dass wir Menschen aufgrund unserer Klugheit, unseres Verstandes und unserer Kreativität durchaus in der Lage sein können, uns und unsere irdische Welt zu erhalten und nach und nach zum Besseren zu gestalten. “An irgendwas muss man doch glauben.” Nein, Mutter, nicht an irgendwas – an den Menschen! Denn da ist sonst niemand. Und auf seine Vernunft hoffen. Und ihn lieben.

“Und wenn’s doch andersrum kommt?” Eben, genau darum.

Rainer Buchheim