Warum wenden sich junge Männer dem gewaltorientierten Salafismus zu? Als Antwortversuch zu dieser Frage legt Felix Roßmeißl eine eigene Studie vor. Er spricht darin von einem "Dschihadist-Werden" in einer "totalen Subkultur".
Warum wird man Dschihadist, also ein gewaltorientierter Islamist? Diese Frage wird mittlerweile seit Jahrzehnten diskutiert, wobei dafür jeder Anschlag eine entsprechende Motivation liefert. Endgültige Antworten hat es auch durch die Forschung dazu nicht gegeben, es wird sie wohl angesichts der Komplexität der Materie auch nicht geben. Gleichwohl gibt es Annäherungen an eine Erklärung. Eine derartige Deutung legt nun Felix Roßmeißl vor, gründend auf seiner Dissertation als eigenständige Monographie: "Dschihadisten. Junge Männer in einer totalen Subkultur". Den Ansatz erläutert er über das "Dschihadist-Werden", wobei "dschihadistische Karrieren" und "totale Subkultur" die relevanten Termini sind. Ausgangspunkt seiner Erörterung ist die Kritik am "Radikalisierung"-Verständnis. Dies sei primär auf Gewalt und Ideologie fixiert und für eine differenzierte Untersuchung des gemeinten Zusammenhangs zu verwerfen. Bereits hier müssen indessen Einwände hinsichtlich des Forschungsstands formuliert werden:

Denn es verhält sich keineswegs in der bisherigen Fachliteratur so, wie Roßmeißl nahelegt. Denn das Prozessverständnis von "Radikalisierung" schließt alle nur möglichen Wirkungsfaktoren ein, wozu gesellschaftliche Kontexte, aber ebenso ideologische Prägungen zählen. Es ist auch nicht über bestimmte Faktoren in einem Stufenmodell abgeschlossen, sondern sehr wohl offen für die Wirkung von Zufällen. Man ist von daher etwas über das einseitige Bild von "Radikalisierung" verwundert. Möglicherweise verdankt es sich der Absicht, demgegenüber eine originelle Erklärung zu präsentieren. Dafür ist indessen die Begriffsnutzung von "Karrieren", also "dschihadistischen Karrieren", auch nicht wirklich neu. Bereits in den 1970er Jahren nutzte man derartige Kategorien, um die Entwicklung in den damaligen Linksterrorismus zu untersuchen. Denn bereits bei diesen Analysen stellten Forscher fest, dass es keine zwingenden Prozesse hin zum Terrorismus gibt. Man darf gar von einem breiten Konsens für die relative Offenheit der Radikalisierungswege sprechen.
Werden diese notwendigen Einwände ignoriert, so liest man dann doch mit Erkenntnisgewinn weiter. Der Autor arbeitet mit konkreten Fällen bei seiner Studie, hier von ihm Cazim, Kai und Patrik genannt. Einer entstammte einem muslimischen Kontext, zwei davon waren Konvertiten. Durch lange Gespräche versuchte Roßmeißl zu ergründen, wie sie aus ihrer Blickrichtung ihre Dschihadisierung wahrgenommen haben. Dies ist ein durchaus erkenntnisförderlicher Ansatz, zumal er eben die Binnensicht stark beachtet, was ja nicht auf eine Legitimation hinauslaufen muss. Der Autor blickt dann intensiv auf die Lebenswege der drei Personen, um bestimmte Etappen auf den gemeinten Karrierewegen zu veranschaulichen. Dabei arbeitet er für "dschihadistische Karrieren" jeweils "fünf typische Schritte" heraus: Erstens, der "Einstieg", zweitens, die "antagonistische Vergemeinschaftung", drittens die "Gelehrsamkeit", viertens der "Aktivismus" und fünftens der "militante Dschihad", was aber auch Radikalisierungsprozessen im gemeinten Sinne entspricht.
Gleichwohl liefert dieser Ansatz wichtige Erkenntnisse, die auch bei anderen Forschungen zu den diversen Terrorismen genutzt werden können. Anschaulich macht der Autor die gemeinten Etappen anhand seiner Gesprächspartner deutlich, wobei er bei manchen Gesichtspunkten auf andere Quellen ausweichen musste. Bei diesen Analysen werden immer wieder bedeutende Bedingungsfaktoren hervorgehoben, sei es bezüglich der gesellschaftlichen und politischen Kontexte, sei es hinsichtlich des Islam. Der präsentierte Ansatz kann gerade beim letztgenannten Aspekt differenzierend wirken, besteht doch durchaus ein Kontext, aber eben nicht in einem zwingenden Sinne. Denn aus einer dogmatischen Deutung des Islam folgt nicht notwendigerweise eine dschihadistische "Karriere" hin zum Terrorismus. Überall bei den genannten Entwicklungsschritten sind Korrekturen möglich, was eine wichtige Einsicht auch von Roßmeißl ist. Sein Analyseraster verdient große Aufmerksamkeit, für die Forschung wie die Präventionsarbeit.
Felix Roßmeißl, Dschihadisten. Junge Männer in einer totalen Subkultur, Hamburg 2025 (Hamburger Edition), 328 S., 35,00 Euro, ISBN 978-3-86854-880-8







