Kultivierung vergeblicher Hoffnungen?

BERLIN. Die Frage-Überschrift zu diesem Tagungsbericht beschreibt den Tenor

der mehrstündigen öffentlichen Debatte in der „Humanistischen Akademie Berlin“ (HAB) am letzten Samstag. Die Akademie hatte zu einem Kolloquium mit dem Thema „Die Mär von der ’Rückkehr der Religion’?“ eingeladen. Der hpd kündigte die Tagung an und führte ins Thema ein.

Der Titel der Veranstaltung sollte die Frage provozieren, ob die These von der „Rückkehr der Religion“ dem ursprünglichen Wortsinn nach eine „Maere“ ist, also eine literarisch-epische Kunde in einer berichtenden Erzählform, die sich durch fabelhafte und wunderbare Elemente auszeichnet, aber dennoch auf erkennbare Realitäten verweist. Dem ist die Debatte gefolgt. Dabei wurde befragt – um im Bild zu bleiben – was an den stattfindenden Erzählungen Volks- und was davon Kunstmärchen sein könnten. Letztere sind ja eher phantasievolle Wundergeschichten, in denen das Unwirkliche das Wirkliche bewusst überbietet. Bei den Volksmärchen dagegen ist die Urheberschaft nicht mehr feststellbar. Es dominiert die mündliche, dann verschriftlichte Überlieferung, in der sich Tatsachen und Verfremdungen verweben.

 

Das war nun im ersten Vortrag die Kernfrage an künftige Forschungen – um wieder in die Sprache der Wissenschaft zu wechseln –: Welche Tendenzen haben religiöse wie nichtreligiöse Stimmungen und wie bewegen sie sich im allgemeinen kulturellen Zusammenhang, zu dem auch theologische und kirchliche Auffassungen von Religiosität gehören, denen der Realglauben nicht unbedingt folgt. Die Referentin, Dr. Claudia Schulz, kam aus Bremen. Sie ist Theologin, Religionswissenschaftlerin und Soziologin mit den Forschungsgebieten: „Lebensstile“ und „Kirchenmitgliedschaft“.

Ihr Vortrag, der den Zusammenhang von Relevanzverlust und -gewinn behandelte, stellte prägnante Selbsturteile aus Lebensgeschichten vor und deutete Aussagen in Interviews und Gesprächen qualitativ. Wenn man sage, Religion bewege sich „aus dem Leben hinaus“, verliere in der gegenwärtigen Gesellschaft an Bedeutung, dann meine dies zunächst die Religion als einen selbstverständlichen und wichtigen Teil des Lebens. Aus den Diskussionen mit den untersuchten Probanden ergebe sich, dass die alltagspraktische oder -relevante Bedeutung von Religion sich zurückbilde. Ebenso verliere eine Religion mit intersubjektivem Charakter an Relevanz. Selbst dort, wo Gemeinschaft als wichtiger Teil der Religion angesehen wird, geht es nicht um Übereinstimmung in der konkreten Überzeugung, sondern um eine Gemeinschaft im Interesse oder auf der Suche.

Es komme (oder: bleibe) aber die authentische, die „echte“ Religion als eine persönliche, als „spürbare“ oder „erfahrbare“ Religion. Sie ist allerdings oft verbunden mit ebenso individualisierten religiösen Praktiken, mit „ganz eigenen“ Ritualen oder Liedern. Diese „echte“ Religion wird sehr häufig nicht als eine alltägliche Religion verstanden, deren Deutungsmuster den Alltag durchdringen oder praktische Entscheidungen beeinflussen. Es stehe vielmehr die Entwicklung des Individuums im Vordergrund. Das eigene (höchst individuelle) Hier und Jetzt werde „vergöttlicht“ und in dieser überhöhten Form als sinnvoll und wunderbar erlebt. Darüber als etwas Einheitliches zu kommunizieren, wie es „Religion“ als System erfordert, fällt schwer – was auch innerkirchlich (Kirche im Umgang mit Gläubigen) zu Schwierigkeiten und Irritationen führt.

Es sei aber festzuhalten, dass es nach wie vor eine relevante Gruppe von Menschen gibt, wenn auch vielleicht nur als relativ kleine Minderheit, für die Religion als Orientierungsleistung nach wie vor bedeutsam ist, z.B. für Menschen in akuten Krisen, für Menschen mit einer Konversionserfahrung oder für ältere Menschen, für die Religion teilweise die Funktion einer Gesellschaftsordnung übernimmt.

 

Nach diesen Befunden zu subjektiven Einstellungen und ihren möglichen objektiven Bedeutungen widmete sich der zweite Referent, Dr. Carsten Frerk aus Hamburg, als Soziologe und Agenturleiter von „fowid“ empirischem Zahlenmaterial und dessen Interpretationen. Er begann mit zwei Ereignissen, die vorwiegend medial transportiert wurden und die die „Rückkehr“-These innovierten (Katholischer Weltjugendtag 2005 und Papst-Besuch in Bayern 2006), um die offiziellen Zahlen sofort herunter zu korrigieren.

So war der gesamte Vortrag ein „aufklärender“, der medial beförderte Annahmen mit empirisch belegbaren Befunden konterkarierte, die bei „fowid“ zu finden sind und für den Vortrag speziell bearbeitet wurden. Ausgehend von neuesten Zahlen über die Religionszugehörigkeiten in Deutschland (mit der Konkretion für Bayern: Rückgang der Katholiken auf 58 %). Die Geburtenzahlen nach Religionszugehörigkeit der Eltern zeigen eindeutig Pluralisierungen und sogar Tendenzen, die beide Kirchen zu Änderungen ihrer Familien-Definitionen herausfordern: 27 % uneheliche Geburten.

In dichten Zeitreihen stellte der Referent Daten über „gelebte Religion“ vor: Kirchliches Leben / Kasualien, Kirchenaustritte, Gottesdienstbesuch, Priesterkandidatensuche / Theologiestudenten, Wissen um die religiöse Bedeutung von Festen (Pfingsten), Rückgang kirchlicher Beerdigungen, Altersaufbau in Religionsgesellschaften mit der immer gleichen Tendenz: je jünger, desto mehr nicht-kirchlich.

Abschließend ging Frerk auf Werteorientierungen besonders bei Jugendlichen ein. Dabei stellte er die neuste Studie „Jugend in Europa“ umfänglich vor. Danach sei eine pragmatische Sichtweise die häufigste, gefolgt von „Metatheismus“, „Naturalismus“ und „Agnostizismus“ als Einstellungen bei Jugendlichen. Traditionelles Christentum komme erst auf dem zehnten Platz.

Der Referent schloss mit Hinweisen auf bewusst falsch gedeutete bzw. von vornherein falsch formulierte Umfragen, die in der Öffentlichkeit den Eindruck erzeugen, eine Religionsrenaissance finde statt.

 

Bei der Arbeit an diesem Tagungsbericht hat der Berichterstatter zwei Beobachtungen gemacht, die Gesagtes bekräftigen und von einer versuchten Kultivierung einer Hoffnung zeugen. Die erste findet sich am 9. März auf „Jesus.ch“. Kirchenfreundliche Wissenschaftler deuten Beobachtungen religionsfreundlich: Popmusik werde immer religiöser.

Religion kehre nach Einschätzung des deutschen Kommunikationswissenschafters und Trendforschers Norbert Bolz in die Popmusik zurück. Die Popkultur habe sich etwas von „sex and drugs and rock'n roll befreit“ und nehme sich nun der tieferen Sehnsüchte der Menschen an. Nach Auffassung von Bolz versuchen die Jugendlichen, die im Wohlstand aufgewachsen sind, mit Religiosität das „Vakuum des Kapitalismus“ zu füllen. Dabei gehe es ihnen aber vor allem um das Rituelle der Religion, das ihnen Halt gebe. Spezielle Glaubenssätze interessierten kaum. Das Wissen über das Christentum sei unter Jugendlichen gering.

Bolz habe sich auch zum neuen Song von Herbert Grönemeyer geäußert. Das Lied „Stück vom Himmel“ handele von Glaube und Gott und könne die Verkrampfung vieler Jugendlicher lösen, die bisher fürchteten „nicht schick“ zu sein, wenn sie sich zu Gott bekennen oder sich mit religiösen Fragestellungen befassten.

Claudia Schulz hatte diesen Liedtext auf der Tagung ebenfalls zitiert und zur Interpretation ihrer Befunde herangezogen. Der Unterschied ihrer Sicht zu derjenigen, die Jesus.ch gibt ist allerdings gravierend. Denn sie erörterte gerade nicht, ob dieses Lied einen Trend ausdrücken „könne“, sondern welche Textzeile welchen Befund bei wem annähernd ausdrücke. Das ist ein wichtiger Unterschied.

 

Die zweite Beobachtung – sie kann Rückkehrthese als mediale Aufgabe genannt werden – findet sich am 12. März im „Christlichen Medienmagazin pro“. Dort wird der Vorsitzende der CDU-Fraktion im Hessischen Landtag, Christean Wagner, zitiert, der in der FAZ geschrieben habe: „Rückkehr der Religion verdient Unterstützung“. Das Zitat zeigt den Vorgang der Legendenbildung, wie ihn Carsten Frerk beschrieb. Dem früheren Justizminister von Hessen ist es ein „alarmierendes Zeichen, wenn in deutschen Kindergärten aus falsch verstandener Rücksichtnahme auf das Singen christlicher Weihnachtslieder verzichtet wird oder christliche Symbole aus öffentlichen Räumen entfernt werden“. Hier bedürfe es eines Umdenkens. Eben: Die Realität verweigert sich nach wie vor einer „Rückkehr der Religion“.

 

Die Tagungsbeiträge erscheinen im Herbst 2007 in „humanismus aktuell“ Heft 21. Nach der öffentlichen Tagung fand die turnusmäßige Mitgliederversammlung der HAB statt. In ihr wurden Prof. Dr. Frieder Otto Wolf (Philosoph, FU Berlin) als Akademiepräsident und Dr. Petra Caysa (Philosophin, Institut Humanistische Lebenskunde des HVD Berlin) sowie Dr. Felicitas Tesch (Pädagogin, Mitglied des Abgeordnetenhauses von Berlin) als Vizepräsidentinnen einstimmig gewählt.

 

Horst Groschopp