BERLIN / BAD RADKERSBURG. (hpd) Am 26. April wird in Berlin darüber abgestimmt, ob Schülerinnen und Schüler (bzw. deren Eltern) darüber entscheiden müssen, ob die Jugendlichen in Ethik oder in Religion unterrichtet werden. Der Philosoph Gerhard Streminger hat sich – weit von Berlin entfernt in Österreich lebend – darüber Gedanken gemacht, und damit auch eine philosophische Sichtweise der Abstimmung ermöglicht.
Ein Kommentar von Gerhard Streminger
Vorbemerkung. Hinsichtlich der philosophischen Disziplin Ethik gibt es eine 2500 Jahre alte Tradition, die zumindest auf Platon und Aristoteles zurückgeht. In ihr werden die Prinzipien des richtigen Handelns auf vernünftige Weise zu erkennen versucht, wobei das Individuum, seine Anlagen und Fähigkeiten sowie seine Umgebung im Zentrum der Betrachtung stehen. Ganz anders im wesentlich jüngeren Christentum und Islam: Dort steht ein ewiges, ungewordenes Höchstes Wesen im Zentrum, und der Mensch ist nicht mehr das Subjekt, sondern das Objekt der Betrachtung. Während in der Philosophie die menschliche Urteilskraft bemüht wird, ist es in der Religion der Glaube, und zwar der Glaube an einen gütigen Gott. Ethik ist also vernunftgebunden, Religion hingegen bekenntnisgebunden. Vertreter von Pro Reli behaupten nun, dass Ethik und Religion insofern ranggleich seien, als sie gleichermaßen Menschen zu richtigem Tun verhelfen könnten. Aber die Wahrheit der religiösen Perspektive hängt davon ab, dass es tatsächlich einen gütigen Gott gibt, der die Gebote vorgibt und in gerechter Weise menschliches Handeln richten wird. Die ganze Kampagne, die von religiöser Seite gestartet wurde und so viel Staub (und Geld) aufwirbelt, steht und fällt mit dieser Annahme.
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Die allermeisten Christen und Muslime sind überzeugt, dass es einen gütigen und gerechten Gott gebe. So beginnen Muslime ihre Gespräche gewöhnlich mit jenen Worten, mit denen auch die Suren im Koran beginnen, nämlich mit der Anrufung des gütigen Gottes: Im Namen Allahs, des Erbarmers, des Barmherzigen! Und Christen feiern in ihren Riten den Allmächtigen, der aus Liebe zu den Menschen seinen eingeborenen Sohn opferte, um uns den Weg ins Paradies zu ermöglichen. Vom Sohn selbst stammen die berühmten, wenn auch angesichts der späteren Entwicklung rätselhaften Worte (da Jesus sich darin gerade gegen eine Vergottung seiner Person wandte): “Jesus aber sprach zu ihm: Was nennst Du mich gut? Niemand ist gut als nur einer, Gott.“(Mk 10,18; 13,32)
Die beeindruckendste Zusammenfassung dieses positiven Gottesbildes gelang jedoch einem berühmten Philosophen, der auch Christ war: „Nichts ist größer als die Weisheit Gottes“, meinte Leibniz, „nichts gerechter als seine Urteile, nichts reiner als seine Heiligkeit und nichts unermesslicher als seine Güte.“ (G.W.F. Leibniz, Die Theodizee [1710], Hamburg 1968, S. 165) Die allermeisten Christen und Muslime (kurz: Theisten) gehen also davon aus, dass ein mächtiger Gott existiere, der alle positiven Eigenschaften in höchstem Maße in sich vereine. Aufklärer halten diese Behauptungen jedoch für wenig plausibel.
1. Realität und Theodizee
Arthur Schopenhauer, ein anderer großer Philosoph, der aber kein Christ war, buchstabierte >Welt< so: W eh, E lend, L eid, T od, womit er nicht nur seinen Pessimismus prägnant zusammenfasste, sondern auch ein prophetisches Wort sprach. Denn auf das Jahrhundert, in dem er lebte, dürfte sein düsteres Alphabet noch weniger zugetroffen haben als auf das folgende, mit den Erfahrungen zweier Weltkriege - und auf das unsrige, mit all den Bedrohungen, die sich wie ein schwarzes Gewölk über uns zusammenbrauen.
Brächte man Menschen die Leiden vor Augen, die sie erwarten könnten, so packte sie alle das Grauen. Auch der Held des Christentums wusste um die Schattenseiten des Daseins: „Jeder Tag hat an seinem Übel genug“, meinte Jesus lakonisch (Mt 6.34). Zumal christliche Priester pflegen in ihren Predigten zunächst die Fülle an Leid und menschlicher Schuld mit Nachdruck zu betonen, um die Frohbotschaft sodann umso strahlender erscheinen zu lassen.
Daneben gibt es natürlich ungleich Erfreulicheres: die Schönheit vieler Naturereignisse, der Morgenröte etwa, der viel besungene bestirnte Himmel über uns, die faszinierende Welt anderer Lebewesen oder die verschiedensten Formen menschlicher Zuneigung. Diese positiven Dinge bleiben jedoch oft in der Minderheit, denn nur wenige blicken mit Zufriedenheit zurück. Viel häufiger durchziehen Kummer oder ein fundamentales Gefühl der Sinnlosigkeit das Leben; dass Menschen längere Zeit glücklich sein sollen, scheint im göttlichen Weltplan nur selten vorgesehen zu sein. Die vielen Leiden sind jenes riesige Loch im geistigen Korb, durch das – zum großen Kummer des Klerus – der Glaube an die Existenz eines gütigen und barmherzigen Gottes immer häufiger hindurch fällt.
Würde ein intelligentes Wesen in diese Welt gesetzt, so käme es nach dem Sammeln von Erfahrungen wohl zur Einsicht,
- dass auf Erden gute und schlechte Götter um die Vorherrschaft ringen, oder
- dass es einen Gott geben muss, der selbst gegensätzlich – gut und böse – ist, oder
- dass die Erde ohne Weltenlenker einsam durch das Weltall ihre Bahnen zieht.
Alle diese drei Möglichkeiten sind mit der Wirklichkeit besser vereinbar als jene, die die allermeisten Theisten vertreten, dass nämlich ein mächtiger und gütiger Gott die Welt regiere.
Um ihren Glauben gegenüber diesen und allen anderen Möglichkeiten auszuzeichnen, haben Theisten seit vielen Jahrhunderten versucht, Rechtfertigungen für die Behauptung der Güte Gottes zu finden – trotz allen Leids in einer von Gott abhängigen Welt. Diese Rechtfertigungsversuche werden üblicherweise Theodizeen genannt, worin wiederum zwei Argumente besonders häufig vorgebracht werden: Das eine handelt von der Sittlichkeit des Menschen und das andere von den göttlichen Eigenschaften.