2. Alles Leid dient der Charakterbildung
Der erste Rechtfertigungsversuch lautet so: Gott ist gütig. Aber er schuf Leid (oder lässt dieses zu), damit Menschen Mitgefühl und Solidarität entwickeln können und zu moralischen Personen werden.
Alles Leid erfüllt somit eine wichtige Funktion, dient es doch der sittlichen Besserung, kurz: der Charakterbildung des Menschen (soul-making). Somit ist alles Leid gerechtfertigt, da es einem Zweck dient, der so hochwertig ist, dass dadurch die Negativität des Mittels – das Leid nämlich – mehr als aufgewogen werde. Da Solidarität, Mitgefühl, aber auch Tapferkeit und Standhaftigkeit hohe Güter sind, ist selbst die Existenz von Krankheiten und Missbildungen gerechtfertigt. Alle schmerzvollen Dissonanzen lösen sich auf im sittlichen Wohlklang.
Was ist nun von dieser Theodizee zu halten? Zunächst ist natürlich unbestritten, dass Menschen – durch Schmerz und Einsicht geläutert – manchmal von nichtigen Dingen des Daseins sich befreien. Manche werden aus Schaden klug, gelegentlich wird der menschliche Charakter durch Leid in positiver Weise geformt, bisweilen führt Leid tatsächlich zu einem höheren Gut. Der Genuss eines kühlen Getränks etwa kann so intensiv sein, dass man meint, der Durst, der diesem Vergnügen voran gegangen ist und es erst ermöglicht hat, werde mehr als aufgewogen.
Andererseits ist auf diese Weise das Leid der Tiere nicht zu rechtfertigen, da sie weder Solidarität noch Pflichtgefühl entwickeln. „Dass es viel Leiden auf Erden gibt“, meinte bereits Charles Darwin, „bestreitet keiner. Man hat das – wenigstens soweit es den Menschen betrifft – damit zu erklären versucht, dass es seiner sittlichen Besserung diene. Aber die Zahl der Menschen ist wie nichts im Vergleich mit der aller anderen fühlenden Wesen. Diese leiden oft erheblich ohne die Möglichkeit einer sittlichen Besserung.“ (K. Deschner [Hrsg.], Das Christentum im Urteil seiner Gegner. Ismaning b. München, S. 275)
Wenn Theisten auf diesen Einwand erwidern, dass Gott das Leid der Tiere deshalb zulasse, damit Menschen auch ihnen gegenüber ethisches Verhalten entwickeln können, dann ist dies schon deshalb unplausibel, weil es tierisches Leid schon lange gegeben hatte, ehe Menschen die Bühne des Lebens betraten.
Es ist also die Fülle an Leid, die der Annahme eines gütigen Weltenlenkers widerspricht. Worin könnte beispielsweise für ein junges, intelligentes, lebhaftes Mädchen oder dessen Angehörige die Charakterbildung bestehen, dessen Gehirn zu schrumpfen beginnt, das in einem Krankenhaus dahinsiecht, kaum noch seine nächsten Verwandten erkennt und ihr Tod allen – außer einigen unbarmherzigen Fundamentalisten – als ein Segen erscheint?
Leid kann oft genug nicht im positiven Sinne bewältigt werden, sondern bedeutet schlichtweg eine Überforderung. Zwar gilt gelegentlich: >Wächst die Not, so wächst das Rettende auch<, aber oft wächst nur die Not. Bedarf es beispielsweise riesiger Vulkanausbrüche, die ganze Städte unter sich begraben, Erdbeben und Tsunami, die Tausende in einer Nacht töten, um in anderen Mitgefühl und Barmherzigkeit zu wecken? Und worin sollte denn das Gut bestehen, das aus der Vernichtung eines anderen Volkes resultiert, aus dem langsamen Tod der Bewohner ganzer Landstriche, aufgrund von Unterernährung und Wassermangel?
Keine Güter folgen solchen Katastrophen, sondern eher das Gegenteil: Wegen der Quantität und Intensität der Leiden wenden viele sich ab, die sich nicht abwandten, gäbe es weniger davon. Der Bereich, innerhalb dessen das Leid seine segensreiche Wirkungen entfalten mag, ist eng begrenzt. Wenn schon – bildlich gesprochen – der Regen notwendig ist, damit gewisse Güter wachsen können, warum wird dann aus dem Regen ein Wolkenbruch und aus dem Wind ein Orkan? Ein Mensch, der durch zu viel Leid in die Gosse gestoßen wurde, ist, wenn er aufsteht, manchmal kein Mensch mehr, sondern ein Monster.
Viele leidvolle Situationen bedeuten keinen Fortschritt zum Besseren, sondern einen Rückschritt zum Schlechteren. Das Erdbeben von Lissabon im Jahre 1755 beispielsweise rief die niedersten menschlichen Instinkte wach und wurde zu einem der Wurzeln des europäischen Pessimismus.
Es ist also nicht nur die Fülle an Leid, die oft nicht positiv bewältigt werden kann, sondern das Leid schafft häufig auch noch neue Übel. Dies zeigt sich etwa an der Verbitterung der Leidenden und an derjenigen der Helfenwollenden. Durch häufige Enttäuschungen ihres Wohlwollens werden viele verhärmt, ihre Geduld erschöpft sich, ihr Mut erlahmt und ihre Neugierde verkümmert.
Zudem stellt sich mit Nachdruck die Frage, ob es überhaupt je gerecht sein könnte, Menschen zugunsten anderer leiden zu lassen. Wenn wir ein Experiment planen, etwa einer Person ein neu entwickeltes Medikament verabreichen, dann klären wir sie auch über mögliche leidvolle Konsequenzen auf und fragen, ob sie bereit sei, diese auf sich zu nehmen; und wir empfinden es als skandalös, wenn dies nicht geschieht. Der angeblich unendlich Gütige fragt jedoch niemand, ob er oder sie großes Leid auf sich zu nehmen bereit ist. So wenig Respekt vor dem angeblich freien Willen des Menschen?
Und schließlich gibt es noch einem weiteren Grund, der zeigt, dass es weitgehend unrichtig ist, dass >Leid der Charakterbildung< diene, wie in vielen religiösen Ethiken behauptet. Denn zumeist sind es Verständnis, Liebe und Freude, die verhindern, dass Menschen sich auf sich selbst zurückziehen; es stimmt einfach nicht, wie es diese dunkle Pädagogik nahe legt, dass die allermeisten hart angepackt werden müssen und erst durch Leid lernen.
Mitgefühl erfordert nämlich etwas ganz anderes: So war auch für Schopenhauer Mitleid ein hoher Wert. Er erkannte jedoch, dass dieses zumeist nicht unmittelbar gegeben ist, sondern einer bestimmten Einsicht bedarf, nämlich jener, dass überall der gleiche Wille zum Leben herrsche: Mein Wille zum Leben ist auch dein Wille zum Leben, und dein Wille zum Leben ist auch identisch mit dem Willen zum Leben des geringsten Lebewesens. Dieses Bewusstsein der Identität des Willens ist nach Schopenhauer notwendig, damit Menschen ihren Egoismus, den eigenen Willen zum Leben nachhaltig zurücknehmen und Mitgefühl und Verständnis entwickeln können; blosses Vorhandensein von Leid genügt dafür nicht.
Aber wenn dem so ist, warum hat der Allwissende kein solches Bewusstsein gefördert, und warum hat Jesus -- für Christen der >größte Morallehrer aller Zeiten< -- davon nicht gesprochen? Wohl findet sich dieses Wissen ausserhalb des jüdisch-christlichen Kulturkreises: Tat twam asi [Dieses bist du] ist vielleicht so etwas wie der Kern asiatischer Weisheit.
Der obigen Theodizee liegt ein sonderbares Verständnis von überragendem moralischen Verhalten zugrunde: Vorbildlich wird genannt, wer durch das Leid anderer in seinem Tun motiviert wird. Aber hervorragender sind doch Menschen, die eine positive Einstellung gegenüber der Welt als solche haben, die nicht nur Leidenden, sondern auch glücklichen, zufriedenen, wohlhabenderen Menschen mit einem, wie Kant es nennen würde, >guten Willen< begegnet.