Konfessionsfreie und Verfassungsrecht

Die besonderen Rechtsinteressen der Konfessionsfreien unter dem Blickwinkel der Trennung von Staat und Kirche und der Religionsfreiheit in Deutschland

Gleich zu Beginn seines Vortrages betonte Dr. Dr. Eric Hilgendorf (Professor und Ordinarius für Strafrecht, Strafprozessrecht, Rechtstheorie, Informationsrecht und Rechtsinformatik an der Universität Würzburg, Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat der Giordano Bruno Stiftung), dass er kein dogmatischer Staatkirchenrechtler sei, sondern dass er sich aus rechtspolitischer Perspektive zum Thema „Staatsbürger im multi-kulturellen Staat“ äußern werde.

In einem Überblick zur aktuellen Bedeutung seiner Fragestellung ging er kurz auf den Einfluss der Evangelikalen in den USA unter Präsident George W. Bush ein, auf mediale Großereignisse wie den Papst-Tod und auf den gegenwärtigen deutschen Papst mit seinen Deutschland-Besuchen, die alle zwar ein steigendes Interesse an Religion darstellten, aber im Kontext von 09-11 auch die Frage des Zusammenhangs von Monotheismus und Gewalt.

Daraus folgerte er: Wie lösen wir unsere Aufgabe einer Erziehung zu multi-kultureller Kompetenz? Die Erfordernisse für Rahmenbedingungen würden von der Rechtswissenschaft leider zu wenig beachtet. Insbesondere das Staatskirchenrecht in Deutschland sei zu nah an der katholischen wie der evangelischen Kirche, als dass es neue Trends und Anforderungen wahrnehmen könne.

Nach einer kurzen Darstellung der Entwicklung der Konfessionszugehörigkeiten in Deutschland als formales Merkmal und der Abschwächung des inneren Zusammenhalts der Kirchen, dargestellt am beständig sinkenden Gottesdienstbesuch, fragte er sich: Wie kann der Staat und das Recht auf diese Entwicklungen reagieren?

Ausgehend von dem Schutz der positiven wie der negativen Religionsfreiheit, die auch für Weltanschauungen gilt, formulierte er als Basis zwei Prinzipien. Das eine ist die „weltanschauliche Neutralität“ des Staates. Dabei ist die Neutralität eindeutig zu verstehen, trotz vieler anderer Auffassungen bzw. Aufweichungen. Das andere ist das Bekenntnis zur Demokratie und dem demokratischen Rechtsstaat, was bedeutet: Das Recht steht über der Religion.

Religion ist zudem ein diffuser Begriff, in dem beispielsweise Antworten auf Sinnfragen damit gemeint sind, die von Vielen für wahr gehalten werden. Religionen sind facettenreich und haben eine extreme Heterogenität verschiedenster, auch widerstreitender Auffassungen. Zudem sind Religionen historischen Wandlungen unterworfen, was Hilgendorf an den wechselnden Haltungen der katholischen Kirche zur Menschenwürde und zu den Menschenrechten erläuterte.

Aus dem Grundsatz, dass die Verfassung den Staat zur weltanschaulichen Neutralität verpflichte, er ist „Heimstatt aller Bürger“, leitete Hilgendorf dann eine ganze Reihe von Änderungen der gegenwärtigen Situation ab.

  1. Die Kirchensteuer ist durch die Kirchen selber einzuziehen und entsprechend dürfe es auch keine Eintragungen der Konfessionszugehörigkeit auf der Lohnsteuerkarte geben.
  2. Das Gesundheitssystem ist eine staatliche Aufgabe und entsprechend zu organisieren.
  3. Verdeckte Finanzierungen an Religionsgemeinschaften sind offen zu legen.
  4. Religionsunterricht als Bekenntnisfach sollte durch Religionskunde abgelöst werden.
  5. Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften sollten keinen Körperschaftsstatus erhalten.
  6. Gesetze sind ohne Privilegien für Religionsgemeinschaften zu formulieren.
  7. In staatlichen Institutionen darf es keinerlei religiöse Symbole geben.
  8. Alle Arbeitnehmer haben die gleichen Rechte.
  9. Alle Staat-Kirche-Vereinbarungen sollen überprüft und ggf. geändert werden (z.B. Abschaffung von Konkordatslehrstühlen).
  10. Staatsleistungen sollen auslaufen.
  11. Theologische Fakultäten sind aus der Kirchenbindung zu lösen.
  12. Die Besetzung öffentlicher Ämter erfolgt ohne Ansehen der Religion.
  13. Militär- und Anstaltsseelsorge sind rein kirchliche Aufgaben.
  14. Der Staat muss für die Übereinstimmung von Norm und Rechtswirklichkeit sorgen.

Zudem geht es um eine Wiederaufnahme der Religionskritik und eine Klärung der Frage von Religion und Moral.

15. Religionskritik ist auch als Selbstkritik staatlicher Einrichtungen zu sehen, z.B. in Fragen von konfessionellen Kindertagesstätten und der konfessionellen Umgebung. Ebenso sind grundrechtliche Fragwürdigkeiten von Religionen zu klären, z.B. das Ordinierungsverbot von Frauen in der katholischen Kirche. Falls die Pluralisierung von Religionen zu einer Verstärkung fundamentalistischer Strömungen führt, müsse dem mit einer Verstärkung religionsexterner Kritik entgegen gewirkt werden. Aufklärung und Kritik müssen (auch ggf. gegen die Kirchen) verteidigt werden. In Deutschland sind zwar große Teile der Kirchen Freunde von Humanismus und Aufklärung, aber die Situationen in den USA oder in Polen sind deutlich anders.

16. Der Behauptung „Ohne Religion keine Moral“ muss entgegengesetzt werden, dass es eine staatliche Gemeinschaftsaufgabe ist, Werte zu vermitteln. Religion und ihre Werte sind nicht automatisch mit den Grundwerten des Grundgesetzes vereinbar. Der Staat muss den religiösen Wertestreit begrenzen.

Anstehende rechtspolitische Regelungen sind zudem die Human- und Bioethik, die Sterbehilfe und der Tierschutz.
Dabei ist ein Wissenschaftsethos zu beachten, dass religiöse oder weltanschauliche Positionen in den Diskussionen von Beginn an offen gelegt werden müssen.

Als Schlussfolgerung formulierte Hilgendorf die Alternativen:
- Alle Religiösen und die Weltanschauungsgemeinschaften gleichermaßen „anheben“, bzw.
- Alle Religiösen und die Weltanschauungsgemeinschaften nur geringfügig „anheben“, die Privilegien der Großkirchen „absenken“ und ein allgemeines Verbandsrecht formulieren.

Weltanschauungsgemeinschaften im deutschen Verfassungsrecht

In einer zügigen Abfolge entwickelte Dr. Christine Mertesdorf juristische Grundsätze und die Betrachtung von Bundesrecht und Landesrecht in den entsprechenden Verfassungen und Gesetzestexten. Ausgehend von Art. 137,7 der Weimarer Reichsverfassung, der über Art. 140 GG inkorporiert ist – wobei diese inkorporierten Normen als ranggleich zu betrachten sind -, führte sie aus, dass das Grundgesetz auf den Prinzipien der Neutralität, Pluralität, Toleranz und Parität beruhe. Diese Prinzipien seien die Richtlinie für jegliche Interpretation. Insofern sind alle Artikel, die nur Religionen benennen, z.B. Art 7,3 GG (Religionsunterricht), weltanschaulich zu „öffnen“. Sofern das, wie beim Religionsunterricht, bundesrechtlich noch nicht geschehen ist, muss und wird das kommen.