Irgendwann erreichten wir einen Kompromiss. Wenn ich meinen Religionslehrer persönlich informieren würde, stünde sie hinter mir, wenn es hart auf hart ginge. Ihre Vorstellung von Höflichkeit, die ich dem armen Mann schulden würde. Nicht die Lösung, die mir vorgeschwebt war. Aber wenn eine im familiären Kontext belanglose Gewissensentscheidung zu einem Dauerkonflikt auszuarten droht, stimmt man lieber einem faulen Kompromiss zu. Mein Vater sagte, was er in solchen Situationen immer sagte. Nichts. Auch wenn sein Schweigen eher als Zustimmung zu meiner Haltung zu deuten war. Die Autorität meiner Mutter in solchen Fragen hätte er nicht quasi öffentlich in Frage gestellt.
Das persönliche Gespräch mit dem „Religionslehrer“, einem Mönch, war die erste und einzige Gelegenheit in meinem Leben, in der ich den Wohntrakt eines Klosters betreten habe. Architektonisch sind die Gänge im Stift Lilienfeld nicht uninteressant. Spannender als das kleine Zimmer, im Jargon Zelle genannt, das dunkel war. Im Mittelalter baute man keine großen Fenster. Vollgeräumt mit Büchern, und nicht nur katholischen Inhalts. Es war ein eigenartig interessantes Gespräch. Der gute Mann, übrigens ausnehmend freundlich, wusste nicht genau, warum meine Situation eines klärenden Gesprächs bedurft hätte. Ich wäre ohnehin nicht sein Schüler geworden, womit sich die Rechtfertigung aus seiner Sicht erübrigt hatte. Mir ging es ähnlich. Es wurde eine angenehme Plauderei über, wie man sagt, Gott und die Welt. Für einen Mönch erwies er sich als erstaunlich weltläufig.
Das offizielle Gespräch war härter. Direktor Biberle zu sagen, ich müsste keineswegs meine Abmeldung in irgendeiner Form begründen, und eine Unterschrift meiner Eltern bräuchte ich genauso wenig, erwies sich als sinnlos. Ich mochte auf das Schulunterrichtsgesetz und meine Rechte als Schüler pochen, was ich wollte. Die Antwort war höchstens: „Hier irrst Du. Bei uns wird das anders gemacht.“ Wer auch immer das „Wir“ war, bei dem es anders gemacht wurde. Niederösterreich? Vorstellbar, aber unwahrscheinlich. Flächendeckend traut man sich sowas nicht einmal in Pröllistan. [„Pröllistan“ wird das Bundesland Niederösterreich genannt, dessen Landesfarben gelb-blau sind, wo ein Landshauptmann Erwin Pröll (ÖVP) seit Jahren mit absoluter Mehrheit regiert, welcher auch Onkel des Vizekanzlers und Finanzministers ist.] Zumal es in den großen Städten, fast alle rot dominiert, liberale Schulen gibt. Lilienfeld? Schon eher. „Wenn die Welt untergeht, geh nach Lilienfeld. Dort sind sie zwanzig Jahre hinten“, pflegte mein Chemielehrer zu sagen. In punkto Religionsunterricht waren es eher 60.
Eine Wand hätte nicht fester stehen können als Biberles Standpunkt. Mag er sich hundertmal irren. Hätte ich den Paragrafen auswendig zitieren können, es hätte keinen Unterschied gemacht. Das Reden ohne gehört zu werden, erschöpfte mich irgendwann. Die Lilienfelder Praxis der Rechtsauslegung (Rechte haben nur die, die das Sagen haben) erwies sich bei all ihrer offensichtlichen Illegalität als erfolgreich.
Ein Telefonat am selben Nachmittag gab mir nicht eben das Gefühl, dass man der Sache beim Landesschulrat in St. Pölten eine tiefere Bedeutung zumaß. Wegen etwas, was die Beamten als Lappalie empfanden, würden sie vermutlich nicht gegen einen Direktor vorgehen. Soll der aufmüpfige Schüler machen, was ihm gesagt wird, so schlimm ist das eh nicht. Soll nicht so empfindlich sein, wir haben andere Sorgen. Auch von Schülerseite her war wenig Unterstützung zu erwarten. Die Aktion Kritischer SchülerInnen zog erst Jahre nach diesem Ereignis in Lilienfeld merkbar ein, in Gestalt meines jetzigen Sektionsvorsitzenden Niki Kowall und meiner Schwester. Von der Schülerunion war in solchen Angelegenheiten keine Unterstützung zu erwarten und ebenfalls nichts zu bemerken. Die einzige Form der organisierten Schülerschaft war der Mittelschüler Kartellverband [MKV, Mittelschüler-Kartell-Verband der katholischen, farbentragenden Studentenkorporationen Österreichs], eine Art CV [CartellVerband, Dachverband von katholischen, nichtschlagenden, farbentragenden Studentenverbindungen] für Schüler. Alles andere als ein natürlicher Verbündeter in Sachen Grundrechte. Beim Religionsunterricht schon gar nicht. Zumal Biberle dort als „Alter Herr“ geführt wurde.
Ich habe mich geschämt, den offenen Rechtsbruch Biberles quasi zu legitimieren. Vom einseitigen Diskutieren erschöpft, brachte ich die Unterschrift meiner Eltern bei – unter einer zugegebenermaßen etwas zynisch gehaltenen Begründung. Ich gehe davon aus, dass sie Biberle nicht verstanden hat. Subtilitäten waren seine Sache nicht. Er war nicht wegen seiner Intelligenz oder seines Humors wegen AHS-Direktor geworden. Er galt als Verehrer des ehemaligen Landeshauptmanns Siegfried Ludwig von der ÖVP, nicht unbedingt als Vertreter eines Hangs zur Demokratisierung bekannt. Ludwigs Porträt hing als Zeichnung in Biberles Büro, bis er pensioniert wurde.





