„Die Erfolglosigkeit des Zen“

 

hpd: Zen-Buddhisten sind also auch keine „besseren Menschen“. Apropos „Zen-Buddhismus“ – ist Zen oder muss Zen eine Religion sein?

Binder: Als ich mich mit Zen zu beschäftigen begann, in den 70er Jahren, glaubte ich tatsächlich, es sei keine Religion, so versuchte es sich damals auch zu verkaufen. Es hieß, für die Zen-Übung sei es gleichgültig ob man Buddhist, Christ oder Kommunist sei. Was in einem bestimmten Sinn natürlich auch stimmt. Aber die Behauptung, Zen sei keine Religion, war und ist grundfalsch.

Im Zen gibt es all die Dinge, die eine Religion ausmachen: Als erstes natürlich das, was ein Weltbild zu einem religiösen macht: der schon genannte Glaube an eine transzendente Wirklichkeit. Es gibt im Zen auch Götter (Boddhisattvas), denen geopfert wird, es gibt Priester, Rituale, exzessive Niederwerfungen, es gibt Gebete, vor allem in Form von Sutren-Lesungen. Reduziert man Zen auf das Sitzen im Lotussitz und bläht dieses Sitzen nicht philosophisch-religiös auf, wie es Zen-Meister so gerne tun, dann ist Zen tatsächlich keine Religion mehr. Selbstverständlich gehören zu einem solch nüchternen Zen auch keine Niederwerfungen und das Lesen von unverständlichen Sutren. Beide Praktiken sind Menschen des 21. Jahrhunderts unwürdig. Mir kommen sie vor, als würde man damit das mittelalterliche feudale Japan nachspielen. Und in die Einfachheit des entsprechenden Weltbildes flüchten, in dem einem überirdische Wesen helfen, so wie der Feudalherr hilft, wenn man sich nur genug buckelt.

In Mythos Zen entwerfe ich ein areligiöses Zen-Verständnis, welches an seinem chinesischen Ursprung orientiert ist. Ich versuche zu zeigen, dass man die für Zen typischen Begriffe, vor allem den fundamentalen Begriff der Buddhanatur, auch nichtmetaphysisch, nichtreligiös verstehen kann.

hpd: Im Zen-Buddhismus kommen, so erscheint es zumindest den Außenstehenden, ziemlich oft befremdliche Allmachtsphantasien vor. Ich = Welt = Gott! Ist das wirklich so?

Binder: Ích selbst habe eine solche „Erleuchtung“ erlebt. Sie ist weniger für Zen als für die hinduistische Mystik typisch. In ihr wird diese Gleichung ausdrücklich aufgestellt. Im östlichen Zen fehlt das letzte Glied der Gleichung, Gott. In der christlichen Mystik ist die Erfahrung der Identität mit Gott eigentlich verboten, die christlichen Lehren betonen eine unüberwindbare Differenz zwischen Mensch und Gott. In meinem Buch erläutere ich die verschiedenen Ursachen für diese Erfahrung, was auch deutlich macht, warum religiöse Menschen eine „natürliche“ Neigung zum Pantheismus haben, zu dem Glauben, alles was existiert, sei Gott. Wichtig bei dieser „Erleuchtung“ ist auch der narzisstische Aspekt, der Größenwahnaspekt, der sich auch bei Zen-Meistern findet.

hpd: Worin sehen Sie die Gefahren und die Möglichkeiten des Zen?

Binder: Ich habe einen Mann mit massiven psychischen Problemen gekannt, der trotz jahrelangen Sitzens „durchdrehte“ und schließlich Selbstmord beging. Wie alle Sekten, zieht auch Zen viele Menschen an, die an schweren psychischen Problemen leiden und die natürlich hoffen, dass diese gelöst werden. Das kann Zen aber nicht leisten. Es gibt auch nicht das Zen und die Lebensform des Zen. In Mythos Zen beschreibe ich verschiedene Formen eines Lebens aus Zen, welche Gefahren sie bergen und welche ein gutes Leben bedeuten können. Zazen, das aufrechte Sitzen mit verschränkten Beinen, kann eine therapeutische, eine heilende Wirkung haben. Aber in dem weiten Sinn, in dem wir beispielsweise von einer heilenden Wirkung von Farben, Musik oder Massagen sprechen.

Auf jeden Fall hat das aufrechte Sitzen bei mir immer eine aufrichtende Wirkung, also einen positiven psychosomatischen Effekt. Ich glaube, dass das therapeutische Potential des Zen noch nicht ausgeschöpft ist. Ich halte beispielsweise die klassischen Meditationsanweisungen für unzureichend. Und ich halte den in Zen-Kreisen weit verbreiteten Glauben für völlig falsch, wichtig sei nur die korrekte Körperhaltung, dann wird alles gut, „unbewusst, natürlich, automatisch“. Einen weiteren Grund für die schwache therapeutische Wirkung sehe ich in der Unwissenheit des Zen über einen zentralen Aspekt der Meditation, ihren sozialpsychologischen Grund, von dem jeder Meditierende, zumindest unbewusst, motiviert wird. Aus diesen Gründen bedeutet Meditation ein weitgehend blindes Verfahren in therapeutischer Hinsicht.

hpd: Wenn zum Abschluss noch eine Frage erlaubt ist, die ihr Privatleben berührt: Wie lange halten Sie es im Lotossitz aus?

Binder: Vielleicht eine Minute. Ich habe nie im vollen Lotussitz gesessen, also beide Füße auf die gegenüberliegenden Oberschenkel gelegt. Ich habe immer nur im halben Lotussitz praktiziert, nur einen Fuß auf den Oberschenkel des anderen Beines gelegt. Aber auch das bereitet auf die Dauer empfindliche Schmerzen. Eine Meditationseinheit dauert im Zen in der Regel 40 Minuten. Hat man vor öfter zu meditieren, wie bei den Sesshins, intensiven Meditationstagen, macht man zwischen den Meditationseinheiten eine ca. 10-minütige Gehmeditation. Inzwischen kann ich in diesem Rhythmus schon einige Stunden am Tag sitzen.

hpd: Herr Binder, vielen Dank für das Interview.

Die Fragen stellte Martin Bauer.

 

Alfred Binder: Mythos Zen. Aschaffenburg 2009. Alibri, 277 Seiten, kartoniert, Euro 18.-, ISBN 978-3-86569-057-9

 

Das Buch ist auch im denkladen erhaltlich.