„Juristen sind traditionell konservativ“

Ist ein gedrucktes Lexikon im Zeitalter des Internets und der rasch veraltenden Informationen noch zeitgemäß?

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Dr. Gerhard Czermak / Foto © Evelin Frerk
Czermak: Sein Hauptvorteil liegt in seiner schnell verfügbaren, übersichtlichen und vernetzten Zusammenstellung ganz unterschiedlicher Informationen unter einem bestimmten Blickwinkel. Das Internet kann das nicht bieten. Der Kern der Artikel wird nicht so schnell veralten, sieht man einmal von punktuellen Gesetzesänderungen usw. ab.

Wo liegen die Hauptkonfliktfelder im Verhältnis Kirche / Weltanschauungsgemeinschaft und Staat?

Czermak: Der Hauptmangel liegt im weitgehenden Auseinanderklaffen des Verfassungsrechts einerseits und der Rechts- und Staatspraxis andererseits. Die religiös-weltanschauliche Neutralität des Staats ist zwar theoretisch bzw. verbal allgemein anerkannt. Das gehört zur political correctness. Aber wenn es darum geht, daraus konkrete praktische Folgerungen zu ziehen, etwa beim Kreuzsymbol, wird meist der Grundsatz „Im Zweifel für die Kirche“ bevorzugt. In einem so pluralistischen Staat wie der Bundesrepublik wirkt das desintegrativ. Insbesondere die – nichtreligiösen – Weltanschauungsgemeinschaften werden verfassungswidrig klar benachteiligt.

Wie glauben Sie, wird sich das Verhältnis von Religion und Staat weiterentwickeln?

Czermak: Das Grundgesetz müsste nur konsequent angewendet werden. Von den Gerichten ist leider auch derzeit noch nicht viel zu erwarten. Sie werden aber punktuell Neutralitätswidrigkeiten beseitigen, teilweise aus Gründen übernationalen Rechts. Eine spürbare Änderung dürfte erst mit einer deutlichen Änderung des gesellschaftlich-politischen Umfelds eintreten.

Woher kommen die doch sehr konservativen Ansichten der Staatskirchenrechtler? Gibt es da auch liberalere Positionen?

Czermak: Juristen sind traditionell weit überwiegend konservativ. Diejenigen, die sich besonders mit dem Religionsrecht beschäftigt haben, standen und stehen seit 1949 den Kirchen nahe oder vertreten von Berufs wegen kirchliche Interessen. Viele sind auch nur schlicht gesellschaftspolitisch konservativ. Sie beherrschen die umfangreiche Literatur mit entsprechendem Einfluss auf Rechtsprechung und Politik. Erst seit etwa zehn Jahren weitet sich der Interessentenkreis aus und werden im Einzelnen auch viele „liberale“ Meinungen vertreten. Die Entwicklung ist langsam, aber deutlich.

Immerhin ein Drittel der Bevölkerung ist nach den von Ihnen zitierten Statistiken inzwischen konfessionslos. Glauben Sie, dass sich dieser Prozess fortsetzt?

Czermak: Eindeutig ja. Die fortlaufenden Statistiken und kirchensoziologischen Untersuchungen zeigen das sehr deutlich, wenn auch oft versucht wird, diese Tendenz zu verschleiern.

Trotz des großen Anteils der Konfessionslosen in der Bevölkerung scheinen diese nur wenig Einfluss auf die Politik zu besitzen. Worin liegt die Schwäche säkularer Verbände?

Czermak: Der Organisationsgrad der so genannten Konfessionslosen (so die unzutreffende soziologische Terminologie) ist traditionell denkbar gering, und die bisherige Zersplitterung tat ein übriges. Berechtigte Anliegen allein pflegen aber die Politik nur selten zum Handeln zu bewegen, wenn kein gesellschaftlicher Druck besteht. Die traditionellen Parteien haben bisher eine panische Angst davor, das Fass der Religionspolitik aufzumachen, weil sie die öffentliche Macht der Kirchen wegen der oft knappen Wahlergebnisse fürchten. Erst seit wenigen Jahren ist aber eine Konsolidierung der säkularen Humanisten usw. festzustellen. Die deutliche Verbesserung ihrer organisatorisch übergreifenden Öffentlichkeitsarbeit trägt aber sicher zu einer langsamen Bewusstwerdung der Probleme bei. Hinzu kommt, dass die Nichtreligiösen ein beachtliches (weit überwiegend überzeugt demokratisches) Wählerpotential darstellen, das die Politik auf Dauer nicht wird vernachlässigen können. Ein Teil des Erfolgs von „Die Linke“ ist auch kirchenfreien Protestwählern zu verdanken.

Welche Gefahren sehen sie im wieder erstarkenden Fundamentalismus, sei er evangelikaler oder islamischen Provenienz?

Czermak: Zu diesem schwierigen Thema möchte ich nur kurz sagen: Der Islam in Deutschland ist stark in Entwicklung mit durchaus auch hoffnungsvollen Tendenzen. Die Bekämpfung des Fundamentalismus sollte zunächst durch eine Beseitigung der schwerwiegenden integrationspolitischen Fehler erfolgen, ist aber auch eine wesentliche Aufgabe des Bildungswesens, die viel Engagement und unvoreingenommenes Wissen der Lehrkräfte erfordert.

Herr Czermak, vielen Dank für das Interview.

Die Fragen stellte Martin Bauer.

Gerhard Czermak: Religion und Weltanschauung in Gesellschaft und Recht. Ein Lexikon für Praxis und Wissenschaft. Alibri, 2009. 399 Seiten, gebunden, Euro 39.-, ISBN 978-3-86569-026-2

Das Buch ist auch im denkladen erhältlich.