Drei Fragen an... Hidir Karademir

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Hidir Karademir / Foto: SPD
Nach diesem Putsch hat in der türkischen Staatsideologie eine gravierende Änderung stattgefunden. Das hieß „Türk-Islam Sentezi“, heißt„Türkisch-islamische Synthese“. Vereinfacht gesagt: ein guter Türke ist ein islamischer Türke. Nach der islamischen Revolution im Januar 1979 im Iran besetzte die damalige Sowjetunion Afghanistan. Das war für die USA eine sehr gefährliche Entwicklung. Die Türkisch-islamische Synthese wurde auch von den USA und arabischen Staaten sehr stark unterstützt. Die USA wollte über die Türkei, Iran und Pakistan gegen die Sowjetunion ein Bollwerk mit gemäßigten Islamstaaten bilden, der so genannte „Grüne Sicherheitsgürtel“. Die Demokratisierung und zivilgesellschaftliche Entwicklung in der Türkei konnte nicht schnell gestoppt werden. Deshalb putschte das Militär am 12.September 1980 noch einmal. Ab diesem Zeitpunkt war das Vorantreiben der Türkisch-islamische Synthese nicht mehr zu stoppen. Die Militärangehörigen nahmen bei jeder Angelegenheit den Koran in die Hand und schworen auf den Koran. Der Anführer des Putsches General Kenan Evren nahm das Koran in die Hand, küsste ihn dreimal und legte ihn auf den Kopf. Das heißt so ungefähr: ich werde nichts tun, was der Koran nicht erlaubt.

Seit dieser Zeit geben die gemäßigten Islamisten in der Türkei den Ton an. Sie wurden von allen staatlichen und zum Teil nicht-staatlichen Organisationen unterstützt. Sie haben innerhalb kürzester Zeit das gesellschaftliche Bild geprägt. Sie haben auch der jetzigen Regierungspartei AKP (Adalet ve Kalkinma Partisi – Gerechtigkeits- und Entwicklungs-Partei) zur Macht verholfen. Seit 2008 gibt es zwischen der Regierungspartei AKP und dem Militär fast einen offenen Machtkampf. Neben dem Militär glaubt ein Großteil der türkischen Bevölkerung, dass die jetzige Regierung eine geheime Agenda hat, nämlich aus der modernen türkischen Republik eine gemäßigte islamische Republik zu machen. Dagegen formiert sich zur Zeit eine große Gruppe der türkischen Zivilgesellschaft. Deshalb sage ich, dass es nur zum Teil richtig ist.

hpd: In den deutschen Medien stellen sich die derzeitigen juristischen und politischen Auseinandersetzungen als Machtkampf zwischen einem mehr oder weniger islamistischen und einem kemalistischen Lager dar. Würden Sie eine Prognose wagen, wie die Türkei aussehen wird, wenn diese Konfrontation beendet ist?

Hidir Karademir: Es ist nicht leicht, eine Prognose zu wagen. Die Islamisten haben in den letzten Jahren in der Türkei mehr an Macht und Einfluss – nicht nur im politischen Bereich – gewonnen. Sie regieren fast seit acht Jahren ununterbrochen in der Türkei. Sie haben die türkische Bürokratie, das Gesundheits- und Schulsystem, die Universitäten und alle anderen gesellschaftsrelevanten Organisationen und Institutionen, die Presse und andere Medien unter Kontrolle. Um ihre Ziele zu erreichen, schrecken sie vor nichts zurück. Sie üben auf die Gruppen und Personen starken Druck aus, die sie als Hindernis oder Gegner sehen.

Die Islamisten haben ein seit 2008 im Untergrund agierendes Geheim-Netz unter der Deckname „Ergenekon“ entdeckt. Ergenekon ist laut Pressedarstellungen innerhalb der staatlichen Strukturen und der Sicherheitskräfte organisierte terroristische Organisation. Die Organisation soll insbesondere gegen die türkische Regierung um Recep Tayyip Erdogan vorgegangen sein. Die Istanbuler Generalstaatsanwaltschaft stuft Ergenekon als „terroristische Vereinigung“ ein. Die Islamisten gehen nicht nur gegen die Mitglieder dieser Organisation strafrechtlich vor, sondern auch gegen die Personen, Persönlichkeiten, Gruppen, Minderheiten, Medien, die sie als ihre Gegner definieren.

Ich glaube nicht, dass das Militär, das von den USA unabhängig ist, eingreifen wird. Da derzeit keine starke Opposition vorhanden ist, gehe ich davon aus, dass diese Partei, trotz aller Korruption – daran ist leider die türkische Bevölkerung gewöhnt – wieder gewählt wird. Zugleich muss man berücksichtigen, dass die AKP vom kapitalistischen System nicht nur durch Diebstahl und Korruptionen profitiert, sondern eigene kapitalistische, wirtschaftliche Strukturen bildet, wie z.B. islamische Arbeitgeberverbände etc. Zugleich beginnt die Dekadenz, wie z.B. dass Frau Erdogan mit anderen Frauen von AKP-Mächtigen exquisite Einkaufszentren für sich schließen lassen, um ungestört Shopping zu gehen oder ganze Kinos, um ungestört unter sich zu sein. Die Islamisten haben ihre religiöse Reiche, Intellektuellen und Bürokraten geschaffen. Dies verleitet mich zu denken, dass sie die Scharia nicht einführen können, denn sie würden sich ins eigene Fleisch schneiden.

Die Fragen stellte Martin Bauer

Hidir Karademir ist Dipl. Sozialarbeiter und seit mehr als 30 Jahre im Sozialen Bereich tätig. Er ist politisch bei der SPD aktiv. Stadtverordneter in Rödermark und Kreistagsabgeordneter im Kreistag des Kreises Offenbach. Er ist verheiratet und hat zwei erwachsene Töchter.