Inselparadies mit Gorilla

(hpd) Soeben erschienen: “Auswilderung”, der erste Roman von Bettina Suleiman. So könnte es sich abspielen - oder doch nicht? Die Übersiedlung von Gorillas auf eine einsame und kahle Insel im Roten Meer endet als Desaster. Die verzweifelten Gorillas, längst der Natur entfremdet, versuchen zu entkommen, stürzen sich gar ins Meer. Und eine Forscherin entflieht der Wissenschaft. Die Autorin äußert sich im hpd zu ihren Ansichten und Arbeitsmethoden.

Eine Gruppe Gorillas soll umerzogen werden, um wieder fern der Menschenwelt leben zu können. Denn so schlau, wie sie dank intensiver Forschungsprogramme über die Intelligenz der Primaten geworden sind, lehnen sie es mittlerweile ab, in der freien Natur zu leben.

Marina, die Expertin für Evolutionäre Psychologie, und ihr Projektchef sehen sich gezwungen, ihr Forschungsprogramm vom Kopf auf die Füße zu stellen. Hielten sie es vorher für ausgemacht, dass derart differenzierte Wesen wie die Gorillas nicht in Zoos oder Labore gehören, stellen sie nun fest: Selbst ein Gorilla hält es höchstens bar der Sprache, des Instruments des Verstandes, in der Natur aus. Sprachlos sollen sie also wieder werden. Doch Yeh-teh, der Chef der Gorilla-Truppe, bleibt ebenso ambitioniert und strebsam wie seine Betreuerin und Erforscherin. Er hat es sich in den Kopf gesetzt, ein Engel zu werden, ein Leibwächter, nein, nicht seines Gorilla-Harems, sondern Marinas Schutzengel. Oder bildet sie sich das nur ein? Waren ein Gutteil der Äußerungen in der Gebärdensprache des wuchtigen Verwandten nur Projektionen? Am Ende bleibt Marina mit Jeh-teh zurück auf dem Felseneiland und erfüllt sich damit vor allem selbst einen Traum, die anderen Affen aber kehren zurück in die Zivilisation.

Bei der Lektüre des satirischen Romans eröffnen sich interessante Fragen, die Bettina Suleiman freundlicherweise sofort bereitwillig und ausführlich dem hpd beantwortete.

 

Foto: © Marie Dion / Suhrkamp Verlag

Foto: © Marie Dion / Suhrkamp Verlag

hpd: Projizieren wir immer in unsere nächsten Verwandten, die Affen, genau das hinein, was wir selbst als Spezies Mensch zu sein glauben?

Bettina Suleiman: Die Frage lässt sich so nicht beantworten. Wer ist “wir”? Das ist keine banale Frage. Während der Arbeit an “Auswilderung” hat mich zunehmend fasziniert, wie unterschiedlich Menschen auf Menschenaffen reagieren. Zum Beispiel bei den Gorillas im Bronx Zoo in New York: Dort habe ich zum einen die Besucher beobachtet, ausschließlich Eltern, die zu ihren Kindern sagten: „Guck mal, ist der nicht riesig? Guck mal, der popelt in der Nase!“
Zum anderen gibt es dort eine Ausstellung über die Geschichte der Gorilla-Forschung, und man liest und hört von Forschern, die ihrem ersten Gorilla in die Augen schauten, alles hinter sich ließen und für die nächsten zwanzig Jahre in den Dschungel zogen.
Warum sehen die einen ein Tier? Warum spüren die anderen eine Verwandtschaft? Ohne Zweifel halten diejenigen, die ein Tier zu sehen glauben, sich selbst nicht für ein solches. Und es ist bemerkenswert, dass ausgerechnet diejenigen, die sich selbst im Menschenaffen wiederzufinden glauben, die also akzeptieren, dass sie selbst auch ein Tier sind, zu Forschern werden und sich in der Forschung zwingen müssen, die menschliche Beziehung abzustellen, nicht zu projizieren, sich nicht zu fragen, was sie da eigentlich anguckt, und nicht zu formulieren, “der Gorilla denkt sich”, sondern “man könnte meinen, der Gorilla dächte sich”. Ihr Bemühen um strikte Trennung von empirischer Beobachtung und möglicher Interpretation, das sich in der sorgfältigen Sprachwahl manifestiert, hat mich beeindruckt.

Beim Schreiben von “Auswilderung” habe ich mich bemüht, die verschiedenen Positionen und Charaktere abzubilden. Es gibt zum einen eine Figur, die ein Erweckungserlebnis hat, als sie ihrem ersten Gorilla in die Augen schaut und das Gefühl hat, “da sei jemand zu Hause”, wie Will Kymlicka und Sue Donaldson es in “Zoopolis” formulieren. Die John-Figur schreibt dem Gorilla darum, als der sich wenig später vor seine Füße übergibt, Intentionalität zu - das habe er absichtlich gemacht, um ihn loszuwerden, um nicht länger angestarrt zu werden. Und zum anderen gibt es eine Szene, wo ein anderer Gorilla sich übergibt, auf eine ähnliche Art und Weise, aber augenscheinlich ohne damit Intentionen zu verfolgen, was Zweifel an der Zuschreibung durch John wecken kann. Eben weil ich kein “Wir” sehe, sondern nur viele einzelne widersprüchliche Erfahrungen und Wahrnehmungen, schreibe ich Romane und keine Philosophie.

 

Kann man eigentlich immer nur sich selbst befreien, während uns gegenüber den anderen Lebewesen nur die Aufgabe des Beschützens zukommen kann und muss?

Das kommt darauf an, was man unter “Befreiung” versteht. In “Auswilderung” geht es um zwei Konzepte von Befreiung.
Zum einen Befreiung im Sinne von “Emanzipation”, also die Befreiung von Abhängigkeit und Rechtlosigkeit durch das Erlangen von Rechten und letztlich durch das Erlangen des Status eines Rechtssubjekts, einer Person, im Gegensatz zu einem bloßen Ding, einem Besitz. Dann gibt es keinen Unterschied zwischen der Emanzipation von Menschen und nichtmenschlichen Tieren, weil Dinge sich prinzipiell nicht selbst befreien können. Wer keinen Personenstatus hat, kann nicht vor Gericht ziehen und diesen einklagen. Als im Jahre 1772 der afrikanische Sklave James Somerset von der King’s Bench, dem englischen Verfassungsgericht, befreit wurde, ging dem die Klage der britischen Anti-Sklavereibewegung voraus, insbesondere des abolitionistischen Anwalts Granville Sharp. Im Jahre 2014 klagt der amerikanische Anwalt Steven M. Wise vom Nonhuman Rights Project vor dem Obersten Berufungsgericht New York für die Befreiung des Schimpansen Tommy. Soweit zur rechtlichen Befreiung.

Der zweite Sinn von “Befreiung”, den ich in “Auswilderung” anspreche, ist der der Befreiung von Zwängen und Ängsten, von Moral und von Regeln, von Vorstellungen davon, was man tut und was nicht, was sich gehört und was nicht, kurz: von unserer jeweiligen Sozialisation.
Der Weg zu dieser Befreiung ist vermutlich sehr individuell, mal ganz abgesehen davon, dass es Menschen geben mag, die diese Befreiung gar nicht wünschen und die ihre kulturelle Prägung als Bereicherung statt als Einengung empfinden. Beliebte Strategien unserer Zeit, wenn man sich in diesem Sinne befreien will, wären wohl Buddhismus, Meditation, Zen und dergleichen, aber perfiderweise lehren Zenmaster, dass man auf Selbstbefreiung nicht hinarbeiten kann, sondern dass sie einem passiert - eine Aussage, die meine Hauptfigur Marina dazu bringt, ihren Yogakurs hinzuschmeißen. Und dann passiert ihr ihre Selbstbefreiung, indem sie die Gesellschaften verlässt, in denen sie sozialisiert wurde, zuerst die deutsche und dann auch die menschliche. Die internalisierten Regeln, die sie einengen, kann sie verlernen in einer Umgebung, in der sie ohnehin keinerlei Sinn ergeben.
In diesem Sinne ist Befreiung für Marina weder etwas, das wir für uns selbst vollziehen können, noch etwas, bei dem uns andere helfen können. Es ist vielmehr Schicksal, oder vielleicht Gnade.

 

Ist Sprache auch wie ein Echo: Man versteht, was man verstehen will, und man sagt, was der andere hören will?

Man versteht, was man verstehen will - das ist ganz sicher so. Dialoge schreibe ich oft, indem ich zunächst ein Gespräch schreibe, in dem die Gesprächspartner sachlich und logisch aufeinander eingehen. Und dann mische ich das durch, stelle Sätze an andere Stellen, sodass der Bezug zwischen den jeweiligen Gesprächsbeiträgen verloren geht. Oder ich schreibe zwei Monologe, die ich ineinander verwebe. Denn Dialoge sind in Wahrheit eben meist Monologe, jeder bleibt in seinem eigenen Kopf und verfolgt seine subjektiven Gedanken weiter. Wie selten passiert es uns im Gespräch, dass jemand die Formel “wenn ich dich richtig verstanden habe, glaubst du, dass” anwendet - dafür müssen wir in der Regel einen Therapeuten bezahlen. Oder zumindest Ratgeber lesen, die ja auch suggerieren, dass sie von uns handeln - während Romane erst einmal vorgeben, Geschichten von anderen Leuten zu erzählen. Darauf muss man sich einlassen, und manchmal passiert es, dass man merkt, sie handeln doch von mir.

Sagt man, was der andere hören will? Warum sollte man? Wenn der andere ohnehin nur versteht, was er verstehen will, dann gibt es keinen Grund, überhaupt etwas zu sagen. Er wird ohnehin hören, was er hören will. Sprache ist insofern eher ein Versuch, sich seiner subjektiven Wahrheiten und Erfahrungen dadurch zu versichern, dass man sie mitteilt, sie in die objektive Wirklichkeit entlässt, sie eben ausspricht.
Dass Sprache weniger Kommunikation als vielmehr Selbstvergewisserung ist, dass wir Angst haben zu verschwinden, wenn wir nicht sprechen, lässt sich sehr gut an Menschen beobachten, die allein leben: Sie lassen den anderen oft kaum zu Wort kommen, unterbrechen ihn, sobald er ein Stichwort geliefert hat, das in ihnen Resonanz erzeugt, und überschütten ihn mit einem Redeschwall.
Es ist, als existiere man nicht, solange man sich nicht selbst auch zum Objekt für andere macht, solange man nur Subjekt bleibt, und nichts interessiert Menschen mehr, als sich selbst durch fremde Augen zu sehen - darum unsere Foto-Besessenheit - oder, im Fall von Gesprächen, sich in ihrer Vorstellung durch fremde Ohren zu hören. Eigentlich wollen wir immer nur uns selbst reden hören.

 


Bettina Suleiman: “Auswilderung”, Suhrkamp Verlag, Berlin 2014, 265 S., 15, 50 Euro