Islam und Rechtspopulismus

Salafistische Radikalisierung – und was man dagegen tun kann

Die Beratungsstelle Hayat

Kehren wir zu Paul und Mehmet zurück: beide Jungen leben noch bei ihren Familien und gehen abends nach den Demos, der “Missionierung” und den Moschee-Besuchen immer nach Hause. Mehmet fängt jetzt an, seine Mutter als “Ungläubige” zu bezeichnen, weil sie sich weigert eine Burka zu tragen und den Islam nicht nach seinem Wunsch lebt. Auch mit seinen jüngeren Geschwistern gerät er häufig in Konflikte, da er sie immer mehr mit seinen Vorschriften kontrollieren will. Seine Mutter fühlt sich nicht mehr stolz, sondern verunsichert und beleidigt. Pauls Eltern bemerkten die Probleme viel früher. Ihr Sohn kleidet sich plötzlich komplett anders, verbringt die Zeit Zuhause ausschließlich damit, sich YouTube-Videos anzuschauen - die aggressiven Stimmen der Prediger und die ungewohnten Töne der Musik bekommen sie jede Nacht mit, wenn sie im Bett liegen. Verzweifelt sind sowohl Pauls als auch Mehemts Eltern. Sie wollen ihre Söhne nicht verlieren, brauchen dringend Unterstützung und suchen im Internet nach Hilfe.

Seit 2012 gibt es in Deutschland die Beratungsstelle Hayat (Teil des Beratungsnetzwerks des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge). Rund um die Uhr bietet die Stelle ein kostenloses, mehrsprachiges (Deutsch, Türkisch, Arabisch, Englisch) und auf Wunsch anonymes Hilfsangebot für Angehörige von einem Team von ausgewiesenen Islamismus-Experten. Die Beratungsstelle ist an das Zentrum für Demokratische Kultur (ZDK) angegliedert, welches zu dieser Arbeit langjährige Erfahrungen und Methoden aus dem Rechts-Aussteiger-Programm “EXIT” mitbringt.

Bei Hayat wird anerkannt, dass Angehörige ein zentrale Rolle in einer erfolgreichen Deradikalisierung spielen können: sie sind in der Lage eine Radikalisierung frühzeitig zu erkennen (Aussehen, soziales Verhalten, Internetaktivitäten), ein weiteres Abdriften ihres Familienmitglieds in den Extremismus zu verhindern oder als Bindeglied zurück in die Gesellschaft zu fungieren. Ziel der Angehörigenberatung ist es, familiäre Verhältnisse aufrecht zu erhalten und zu verstärken, um ein Unterstützungsumfeld um die sich radikalisierende Person herum zu schaffen. Durch langfristige Beratung wird dann versucht, das soziale Umfeld zu stärken, die Kommunikation innerhalb der Familie zu verbessern und dem bzw. der Radikalisierten - durch emotional nahestehende Menschen - Alternativen anzubieten.

Wenn jemand bei der Hotline anruft, ist die erste Aufgabe der Berater sicherzustellen, ob es sich tatsächlich um eine Radikalisierung, oder einfach um einen Glaubenswechsel handelt. Die Berater müssen in der Lage sein, zwischen freier Religionsausübung und eventuell sicherheitsrelevanter Radikalisierung unterscheiden zu können. Dieses Wissen wird durch intensive Netzwerk-Arbeit erworben: Um die Bedeutung von bestimmten Moscheen, Gruppen und Symbolen erkennen und einordnen zu können, ist ein vielfältiges, zuverlässiges Netzwerk eine Notwendigkeit. Manchmal gehört hierzu, Facebook-Seiten, Veröffentlichungen oder Argumentationen eng zu folgen, um sicher zu stellen, ob es sich tatsächlich um eine Radikalisierung handelt.

Auch sehr wichtig, um mögliche Deradikalisierungsarbeit zu leisten, sind Partner vor Ort (Schulen, Behörden, Familienberatungsstellen), die in den Beratungsprozess mit einbezogen werden können. In manchen Fällen ist die Aufgabe der Beratungsstelle nicht, Deradikalisierungsarbeit zu leisten, sondern einfach Angehörige zu beruhigen und Verständnis für die religiöse/spirituelle Entscheidung einer Person zu schaffen.

Über die Klärung der tatsächlichen Radikalisierung hinaus muss herausgefunden werden, warum die radikale Gruppe für diese Person attraktiv ist, welche Motivationen dahinter stecken. An dieser Stelle ist es auch wichtig, dass eventuelle Konflikte innerhalb der Familie geklärt werden und – falls notwendig – eine Wiederherstellung einer Bindung zwischen Angehörigen und der betroffenen Person erfolgt. Hierfür ist es nötig, dass die Bedürfnisse der radikalisierten Person beachtet werden. Wenn es sich z.B. um eine Konversion handelt, sollten Informationen zum Islam an die Familie vermittelt werden. An dieser Stelle soll betont werden, dass die Beratung bei Hayat zuallererst auf die Angehörigen ausgerichtet ist, um Deradikalisierung bei den Betroffenen zu erreichen; auch wenn die Möglichkeit besteht, dass sich eine Ausstiegsberatung für die radikalisierte Person selbst daraus entwickelt.

Der Beratungsprozess selbst fängt mit einem individuellen Gespräch zwischen dem Berater und der ratsuchenden Person an, in dem die möglichen Motivationen für die Radikalisierung diskutiert werden und auch die Ziele, Fragen und Bedürfnisse der ratsuchenden Person geklärt werden. Dann wird ein Plan zusammen erarbeitet: die nächsten notwendigen Schritte werden aufgezeigt und in einen realistischen Zeitrahmen eingefügt. Aufgabe der Berater_innen ist es, während der nächsten Schritte mögliche Hindernisse aus dem Weg zu räumen oder es zu erleichtern, diese zu überwinden. Konkret heißt das, dass sie für die Angehörigen vertraute AnsprechpartnerInnen werden – sie unterstützen oder begleiten die Angehörigen bei Behördengängen, sie vermitteln rechtliche Informationen, sie geben familienorientierte Beratung in Sachen Sicherheitsrelevanz, sie vermitteln staatliche oder psychologische Hilfe, sie vermitteln an weitere Institutionen und Familienberatungsstellen, eventuell auch an das Jugendamt. Die Beratung folgt bei jedem Einzelfall dessen eigener Schrittfolge und Tempo.

Seit dem Start seiner Tätigkeit hat Hayat fast 100 Beratungsfälle aufgenommen. Die Hilfesuchenden wurden oft durch Freunde und Bekannte auf die Stelle aufmerksam gemacht, suchten im Internet nach Beratungsangeboten oder sind durch Medienberichte auf Hayat gestoßen. Oft sind es die Mütter oder weibliche Familienmitglieder, die die Beratungsstellen aufsuchen. Die Mehrzahl der Radikalisierten ist zwischen 18 und 24 Jahre alt, davon ist ungefähr ein Drittel weiblich.

In der Mehrzahl der Fälle zeigte sich eine weit fortgeschrittene Radikalisierung mit Anbindung an gewaltbereite salafistische Netzwerke und in vielen Fällen war eine Ausreise geplant oder bereits erfolgt. Mit Ausnahme von wenigen Fällen liegt der Erfolg der Beratungsarbeit bisher in der Beruhigung der ursprünglich sehr konfliktgeladenen Situation, der Wiederherstellung der Kommunikation innerhalb der Familie und mit dem Umfeld und einer damit einhergehenden Verlangsamung bis zum Stopp des Radikalisierungsprozesses.

 


Der Autor ist Mitarbeiter bei der Beratungsstelle Hayat. Er hat über 100 Fälle von islamischer Radikalisierung begleitet. Die hier genannten “Paul” und “Mehmet” sind rein fiktive Personen, die veranschaulichen sollen, wie Radikalisierungsprozesse verlaufen können.

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Erstveröffentlichung bei der Bundeszentrale für Politische Bildung.