BERLIN. (hpd) Schon hoch betagt, von 1989 bis 2002, veröffentlichte Claude Lévi-Strauss rund ein Dutzend kleine Essays in der italienischen Tageszeitung "La Repubblica". Diese geistfunkelnden Kabinettstückchen sind Zeugnisse eines großen Humanisten. Ende letzten Jahres erschienen sie auf Deutsch.
Die Entwicklung des Menschen aus der Sicht des Ethnologen – gibt es da überhaupt eine Entwicklung? Denn genauso wie die Aufklärung ist dem Ethnologen auch der Kulturrelativismus Prinzip.
Im Eigenen steckt das Fremde, im Neuen das Alte. Claude Lévi-Strauss ist der Platoniker seiner Zunft. Seinen Informanten entlockt er eine urmenschliche Dialektik des Denkens. Von ungleichgewichtigen Gegensätzen in einer immer unabgeschlossenen, weil unaufgelösten Dynamik in Gang gehalten. Seine Schamanen sind Künstler, die Mythen deutet er vor allem als großartige Erzählungen.
Nein, es kam nicht erst das Fressen und dann die Moral. Die ersten Menschenfresser wollten ihre Verstorbenen weiterleben lassen, indem sie sich wie die Papuas ihre Gehirne einverleibten. Das erste Metall – das faszinierend sonnengleich schimmernde Gold – wurde zu Schmuck, nicht zu Messern oder Pflugscharen verarbeitet. Als unsere noch allüberall reichlich haarigen Vorfahrinnen ihre Zu- und Abneigungen mittels einer sei es auch noch so rudimentären Sprache ausdrücken konnten, entwickelten sich die optischen und olfaktorischen Kennzeichen ihrer Fruchtbarkeitsperiode zurück, und der Kehlkopf erst daraufhin weiter. Damit setzt Lévy-Strauss die These schachmatt, die biologisch betrachtet ewige Liebesbereitschaft der Weibchen erzeuge schützende Familienbande, die langsameres Wachstum des Nachwuchses und damit mehr geistige Fähigkeiten unter anderem beim Sprechen ermöglichten. Und diejenige, der erst voll ausgebildete Kehlkopf sei Voraussetzung für die Sprache. Der Überbau formt eben auch den Unterbau.
Überhaupt, die Sprache: Alle Bestandteile der Sprache, selbst aufeinander bezogene Elemente, die nur in dieser relativen Bedeutung eine Funktion haben, gibt es auch in den Genen. Die RNA sind gleichsam Wörter, die etwas über die Beziehungen von Wörtern zueinander aussagen. Zu Clustern schließen sich sogar schon Amöben zusammen, wenn es für sie zu unwirtlich wird und sie so im Verband schwimmend besser neue Biotope erreichen können. Als Modell ist vieles schon da. Als Struktur wiederholt es sich.
Ursprünglich auf der Flucht vor den Nazis beschrieb Claude Lévi-Strauss einst die Amerindianer Brasiliens. Aber er war zeitlebens ein ebenso großer Leser wie Zuhörer. Und da entdeckt der Autor von "Traurige Tropen" angesichts der ersten Rinderwahnsinn-Epidemie gegen Ende des letzten Jahrhunderts, dass im 19. Jahrhundert der Begründer des Positivismus Auguste Comte auch schon innovativ über eine industrialisierte Tierproduktion spekulierte und sie gar propagierte. Sie erscheint dem Ethnologen angesichts der künftigen Nahrungsmittelknappheit nicht nur kannibalisch - wie sie strenggenommen jedem Buddhisten vorkommen müsste -, sondern einfach nicht mehr praktikabel. Nicht nur die Tiere, selbst uns machen wir zu Kannibalen.
Und um zwanzig Jahre nimmt Claude Lévi-Strauss so mal nebenbei Will Kymlickas Vision von der Zweiteilung der Tiere vorweg in assoziierte Mitglieder der menschlichen Gesellschaft einerseits und ausgewilderte Herdentiere in rückgestalteten Reservaten. Restlandschaften abseits der krebsartig sich ausweitenden Metropolen. Diese Tiere werden dann, wieder bejagt, zum seltenen und nun sehr teuren Fleischgenuss herhalten, vermutet der Ethnologe.
Jeder einzelne Artikel des wohl letzten Buches mit Lévi-Strauss-Primärtexten steckt voll solcher überraschender und aktueller Perspektiven. Mit viel Understatement geht es immer wieder um die ganz großen Fragen: Wo kommen wir her? Wer sind wir? Wo gehen wir hin?
Claude Lévi-Strauss: "Wir sind alle Kannibalen", Übersetzung Eva Moldenhauer, Suhrkamp Verlag Berlin 2014, 250 Seiten, 26,95 Euro