"Islamischer Staat"

Staatsversagen und Staatsverfall

BONN. (hpd) Der Islamwissenschaftler Rainer Hermann, FAZ-Redakteur, behandelt in seinem Buch "Endstation Islamischer Staat? Staatsversagen und Religionskrieg in der arabischen Welt" das Aufkommen der Terror-Miliz im Kontext der Erosion staatlicher Strukturen in der arabischen Welt. Auch wenn ein solcher Ansatz nicht neu in der Terrorismusforschung ist, gelingt es dem Autor, derartige Zusammenhänge in seinem in Beschreibung und Analyse gelungen Buch anschaulich und erkenntnisfördernd, kenntnisreich und komprimiert darzustellen.

Das öffentliche Köpfen und Verbrennen von Menschen steht für das bislang höchste Ausmaß an Brutalität und Grausamkeit islamistischer Gewalttäter. Als "Islamischer Staat" (IS) bzw. "Islamischer Staat im Irak und Syrien" (ISIS) bilden sie ein Phänomen, das als reales Gefahrenpotential regelmäßig die Nachrichtenlage beherrscht. Doch worum handelt es sich eigentlich bei IS bzw. ISIS? Eine Antwort auf diese Frage geben mittlerweile einige gelungene Darstellungen von Experten wie Behnam T. Said oder Guido Steinberg. Doch vor welchem allgemeinen politischen Kontext muss das Aufkommen der Terror-Miliz gesehen werden? Dieser besonderen Frage geht der Islamwissenschaftler Rainer Hermann, Redakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, in seinem Buch "Endstation Islamischer Staat? Staatsversagen und Religionskrieg in der arabischen Welt" nach. Wie der Untertitel bereits nahe legt, deutet er das Aufkommen und die Entwicklung dieser islamistischen Gewalttäter im Lichte des Staatsversagens und Staatsverfalls in der dortigen Region.

So beginnt Hermann sein Buch auch mit Ausführungen zum Scheitern der postkolonialen Staaten, welche die Form von säkularen Diktaturen in sklerotischer Erstarrung angenommen hätten. Als einzige Alternative dazu habe sich der Islamismus angeboten: "Denn wenn sich Nationen und der Arabismus nur wenig zur Identitätsstiftung eignen, schlägt die Stunde der Religion. Der Islam bietet auch mehrere Anknüpfungspunkte, die sich für eine Identitätsstiftung eignen: als Widerstandsideologie (gegen ausländische Mächte, auch gegen die eigene Staatselite); als sozialpolitische Bewegung (Arme sollen in Würde leben); als moralische Institution (gegen Ungerechtigkeit)" (S. 27). In dem Kontext von Islamismus und Staatszerfall sei der IS nur ein neuer, wenngleich der wichtigste Akteur bei der beabsichtigten Schaffung einer neuen Ordnung. Insofern sei es auch kein Zufall, dass die Terror-Miliz insbesondere im Irak und Syrien angesichts der dortigen Umbrüche seine militärischen und politischen Erfolge in überraschendem Ausmaß feiern konnte.

Erst nach der Erläuterung dieser Rahmenbedingungen geht Hermann näher auf die Entstehung und Entwicklung des IS ein, wobei er die entscheidenden Faktoren herausarbeitet: die personelle Stärke, die hohen Soldzahlungen, die effiziente militärische Organisation, Mengen und Qualität von Munition und Waffen, ein ausgeklügeltes Finanzsystem, die Attraktivität der "staatlichen Ordnung" und die Existenz von Rückzugsräumen. Der Autor macht ausserdem deutlich, dass man es hier mit einer neuen Form totalitäre Ideologie und totalitärer Staatsstruktur zu tun hat. Er betont aber auch, dass brutale Repression allein nicht die Bedeutung erkläre: "Der IS könnte sich … nicht lange halten, erfüllte er nicht zumindest einen Teil der Erwartungen der Bevölkerung" (S. 74). Angesichts der Erosion des Staates bietet er einen Ersatz für den Staat. Die Regionalmächte seien in dieser Situation keine Stabilisatoren und auch der Westen habe nur geringe Einflussmöglichkeiten: "… es ist keine Macht in Sicht, die ordnend eingreifen könnte, keine regionale und keine globale" (S. 117).

Hermanns Buch zeigt, dass man relevante Informationen zu einem komplexen Thema auf engem Raum ebenso differenziert wie verständlich präsentieren kann. Seine Abhandlung stellt das Aufkommen des Islamismus in den Kontext von Staatskrisen und Staatszerfall. Das ist kein neuer Ansatz, gibt es doch in der Terrorismusforschung immer wieder einschlägige Analysen. Gleichwohl gelingt es dem Autor, diesen Ansatz konstruktiv und überzeugend auf den IS und die gegenwärtige Situation zu übertragen. Er formuliert auch eine beachtenswerte Hypothese, wenn die gegenwärtige Situation in der arabischen Welt mit dem "Dreißigjährigen Krieg" in Europa verglichen wird. Das geschieht nicht in Form einer platten Gleichsetzung, sondern durch reflexionswürdige Einschätzungen zu Gemeinsamkeiten und Unterschieden. Hier und da hätte wohlmöglich noch der Einfluss und das Versagen des Westens stärker thematisiert werden können, aber diese kritische Anmerkung kann und will nicht die Qualität des kleinen, aber erhellenden Bandes minimieren.

 


Rainer Hermann, Endstation Islamischer Staat? Staatsversagen und Religionskrieg in der arabischen Welt, München 2015 (deutscher taschenbuch verlag), 144 S., 12,90 Euro