BONN. (hpd) Der Journalist Abdel Bari Atwan legt mit "Das digitale Kalifat. Die geheime Macht des islamischen Staates" eine Darstellung zur Entwicklung des IS vor. Entgegen des Titels gibt es keine Schwerpunktsetzung auf die digitale Komponente der islamistischen Organisation, gleichwohl wird ihre Entwicklung und ihre Praxis kompetent beschrieben und kommentiert.
Der "Islamische Staat" (IS) ist keine terroristische Organisation im klassischen Sinne. Ihm geht es nicht nur um Anschläge und Attentate, ihm geht es mehr um Eroberungen und Räume. Dies erfordert für Gegenstrategien ganz andere Konzepte, was in der politischen Debatte häufig verkannt wird. Eine weitere Besonderheit besteht darin, dass der IS auch Räume in der digitalen Welt erobert hat.
Zwar nutzte und nutzt auch Al-Qaida das Internet, aber nicht mit der dem IS eigenen Professionalität. Diese Besonderheit hat wohl den palästinensischen Journalisten Abdel Bari Atwan, der für die BBC und den Guardian arbeitet und die Webseite Rai al-Youn leitet, zu einer einschlägigen Schwerpunktsetzung in seinem Buch "Das digitale Kalifat. Die geheime Macht des Islamischen Staates" veranlasst. Als Erläuterung dazu heißt es gleich zu Beginn: "Ohne die digitale Technik hätte der Islamische Staat wohl nie entstehen, geschweige denn sich so lange halten und sogar ausbreiten können. Darum möchte ich dieses neue Gebilde als 'digitales Kalifat' bezeichnen". (S. 19)
Atwan geht, um es gleich vorweg zu sagen, zwar im ersten Kapitel "Masters of the Digital Universe" auf die Besonderheiten des "Cyber-Jihad" (S. 42) ein. Er macht eindringlich deutlich, wie wichtig das Internet für die Umsetzung der territorialen Ansprüche der Organisation war und ist. Danach liefert der Autor aber eine eher konventionelle Darstellung zur Entwicklung des IS, wobei der digitalen Dimension nur noch marginale Aufmerksamkeit geschenkt wird. Dies fällt angesichts des Titels nur auf, mindert aber nicht den Wert des Buchs.
Allein drei Kapitel widmet Atwan der Entstehung des IS. Dabei blickt er in den Irak unter Saddam Hussein, in das Afghanistan der Taliban und in das Syrien der Assad-Dynastie. Eindrucksvoll macht der Autor dabei immer wieder auf die Doppelmoral und Widersprüchlichkeit westlicher Politik aufmerksam. Dazu gehört etwa ein so marginales Detail wie die Erinnerung daran, dass die US-Besatzungsmacht im Irak auch nach dem Sturz Husseins das Verbot von Gewerkschaften bestehen ließ (vgl. S. 64).
Anschließend liefert Atwan ein Portrait von Abu Bakr al-Baghdadi, dem "Kalifen" des IS, und beschreibt die Expansion und Konsolidierung der Organisation. Besondere Aufmerksamkeit findet danach das Innere des "Islamischen Staates", bezogen auf den Alltag, die Finanzen und die Verwaltung. Hier wird mit Ausführungen über Räte auch das besondere System deutlich. Der Autor bemerkt dazu: "Die Strukturen von Verwaltung und Entscheidungsfindung ... basieren auf Vorbildern aus dem Koran und aus der Geschichte" (S. 175). Und danach geht es noch um die gesteuerte Brutalität und deren Funktion sowie die Bedeutung und Rolle ausländischer Kämpfer des "Kalifen". Dem folgt ein besonders beachtenswertes Kapitel "Gefährliches Spiel: Der Westen instrumentalisiert den radikalen Islam" (S. 239-251). Darin stellt Atwan auf die Mitschuld insbesondere der USA am Wachsen des Islamismus ab. Diese wird im letzten Kapitel noch einmal anhand der Kooperation mit Saudi Arabien, das Gruppierungen mit Geldern und Nachschub versorge, verdeutlicht.
Zwar löst das Buch das Versprechen des Titels, die digitale Dimension des IS in den Mittelpunkt zu stellen, nicht ein. Diese Entscheidung mag bei Autor und Verlag vielleicht davon motiviert gewesen sein, damit unter anderen Büchern zum Thema hervorstechen. Gleichwohl handelt es sich um einen beachtenswerten Beitrag zum Thema.
Atwan legt häufig genug den Finger in die Wunde falscher Politik des Westens. Das Aufkommen des IS erklärt sich mit aus einer Krise der dortigen Gesellschaften, aus dem Fehlen von funktionierenden Staatsstrukturen. An dem damit einhergehenden Desaster trägt die kurzfristige Machtpolitik des Westens große Verantwortung. Atwan neigt aber auch dazu, die damit verbundene Schuld allzu stark nach außen zu schieben. Die Binnenfaktoren für das Dilemma hätten stärkeres Interesse finden können. Beachtlich sind seine Anmerkungen zu "Was können wir tun?" (S. 276-280). Er bleibt hier unklar, was aber auch verständlich ist. Atwan bringt auch "Bodentruppen" (S. 276) ins Gespräch – ein nicht unproblematisches Votum.
Abdel Bari Atwan, Das digitale Kalifat. Die geheime Macht des Islamischen Staates, München 2016 (C. H. Beck-Verlag), 299 S., ISBN 978-3-406-69727-2, 16,95 Euro