Folge des Staatszerfalls

Der Aufstieg des IS

BONN. (hpd) Der Islamwissenschaftler Wilfried Buchta erklärt sich in seinem Buch "Terror vor Europas Toren. Der Islamische Staat, Iraks Zerfall und Amerikas Ohnmacht" den Aufstieg der Terror-Miliz durch die schiitisch-sunnitischen Konflikte im Land in Kombination mit den Folgen des Staatszerfalls nach dem Ende von Saddam Hussein. Auch wenn die historischen Rückgriffe zunächst irritieren, macht der Autor doch deren Relevanz für die Deutung der aktuellen Situation in einer anschaulichen Beschreibung und überzeugenden Kommentierung klar.

Im Irak und Syrien entfaltet die Terror-Miliz "Islamischer Staat" (IS) seine von Brutalität und Grausamkeit geprägte Herrschaft. Dabei geht man nicht nur gegen Nicht-Muslime mit Gewalt und Unterdrückung vor. Auch andere Muslime wie insbesondere die Schiiten sehen sich Repressionen von der Beraubung bis zur Versklavung ausgesetzt. Wie konnte es zum Aufstieg einer solchen Bewegung mit derartigen Feindbildern kommen?

Dieser Frage geht mit einer historischen Perspektive der promovierte Islamwissenschaftler Wilfried Buchta in seinem Buch "Terror vor Europas Toren. Der Islamische Staat, Iraks Zerfall und Amerikas Ohnmacht" nach. Obwohl er von 2005 bis 2011 in Bagdad als politischer Analyst für die UNO-Mission im Irak gearbeitet hat, präsentiert der Autor keinen persönlichen Erlebnisbericht über die seinerzeit von ihm persönlich beobachteten Umbrüche in der dortigen Region. Demgegenüber durchzieht ein nüchterner und sachlicher Ton das Buch, das rein formal schon durch großen Informationsreichtum und klare Strukturierung auffällt.

Am Beginn steht der erfolgreiche Angriff des IS auf Mossul im Juni 2014, der Buchta als Wendepunkt in der langen Geschichte blutiger Konflikte im Nahen Osten gilt. Dabei betont er bereits, dass der Vormarsch "mit einer gegen Bagdad gerichteten sunnitischen Volkserhebung einher" (S. 15) ging. Denn der Erfolg der Terror-Miliz sei nicht nur auf den Staatszerfall im Irak, sondern auch auf einen innerislamischen Konflikt zurückzuführen. Dementsprechend greift Buchta weit zurück in die Geschichte und wechselt thematisch tief in die Vergangenheit.

Dabei beschriebt er das Aufkommen der Glaubensspaltungen im Islam noch in der Frühgeschichte dieser Religion, wobei die damit einhergehenden Differenzen von Sunniten und Schiiten auch noch die Gegenwart prägten. Dem folgt eine politische Geschichte des Irak im 20. Jahrhundert, die mit dem Ende der Ära Saddam Husseins schließt. Die Auflösung bzw. Zerschlagung von dessen Diktatur habe aber zu einem gefährlichen Machtvakuum, aber nicht zu einem sicheren Staat geführt.

Genau dabei sieht Buchta die Außenpolitik der USA in der Verantwortung, was die folgende Schwerpunktsetzung auf die Nahost-Politik zunächst der Bush-, später dann der Obama-Administration erklärt. Der neue Ministerpräsident Maliki sei in die Fußstapfen Saddam Husseins getreten und habe weiter die Sunniten zugunsten der Schiiten benachteiligt. Die USA hätten hier nicht gegengesteuert und so die latente Bürgerkriegssituation eskalieren lassen.

Der Staat sei unter die Räuber gefallen, Kleptokratie und Korruption wären an der Tagesordnung gewesen. Genau diese Situation hätte der IS genutzt, um militärisch wie politisch voran zu kommen. Deren Ausrufung eines eigenen Staates sei dabei der vorläufige Höhepunkt gewesen. Der Autor bemerkt hier: "Wenn man heute, im Jahr 2015, auf den 'Islamischen Staat' blickt, erkennt man erstaunlich effiziente bürokratische und quasistaatliche Strukturen und Funktionen, die ihn zu weit mehr machen als einer bloßen Terrormiliz" (S. 299). Sein Aufstieg sei eine Folge des Staatszerfall im Rumpfstaat Irak.

Auch wenn die Rückgriffe auf die Geschichte des Islam ebenso wie auf die Geschichte der US-Außenpolitik zunächst irritieren, gelingt es Buchta mit seinen historischen Exkursionen doch deren Bedeutung für gegenwärtige Entwicklungen anschaulich zu dokumentieren. Auch wenn er meist beschreibend bleibt, findet man immer wieder beachtenswerte Einschätzungen. So betont der Autor beispielsweise: "Obama hat Maliki und dessen Absichten und Fähigkeiten vollkommen falsch eingeschätzt" (S. 322). Und über die Interventionen des Westens heißt es etwa: "Die amerikanische Invasion von 2003 ist ein Lehrstück dafür, dass Interventionen ausländischer Akteure keine funktionierenden Staaten hervorbringen können. Ohne Anstöße von innen und ohne fest im Volk verwurzelte demokratische Partnerparteien, sind solche Interventionen zum Scheitern verurteilt und verschlimmern bestehende Übel" (S. 370f.). Derartige Ausführungen hätte man gern mehr gelesen, verschwinden doch häufig solche lehrreichen und reflexionswürdigen Passagen in der Füllte des Stoffs.

 


Wilfried Buchta, Terror vor Europas Toren. Der Islamische Staat, Iraks Zerfall und Amerikas Ohnmacht, Frankfurt/M. 2015, 413 S.