"Jeder glaubt zu wissen, was die Liebe sei"

BERLIN. (hpd) Im geflügelten Wort von der "vergeblichen Liebesmüh" schlägt sich unser kollektives Wissen nieder: Liebe gelingt trotz aller Bemühungen nur manchmal. Der Philosoph Michael Roes und der Psychoanalytiker Hinderk Emrich haben sich über die vielen Facetten der Liebe ausgetauscht, nicht nur über deren Vergeblichkeit.

Ihr philosophisches Gespräch liegt nun unter dem Titel “Einige widersprüchliche Anmerkungen über die Vergeblichkeit der Liebe” in Buchform vor. Der hpd sprach mit Michael Roes über Glück, Zwang und literarische Zitate.

 

hpd: Kann Liebe eigentlich überhaupt definiert werden?

Michael Roes: Genau das ist die Ausgangsfrage meines Briefwechsels mit Hinderk Emrich. Jeder Mensch, zumindest jeder, der schon einmal geliebt hat, glaubt zu wissen, was die Liebe sei. Sie in Worten zu beschreiben, fällt den meisten Menschen hingegen schwer, weil es sich um ein komplexes Gefühl, aber auch um einen äußerst komplexen, kultur- und kontextabhängigen Begriff handelt.

 

Was wäre, wenn es für Liebe gar kein Wort gäbe, wenn wir Liebe nicht in Worte fassen könnten?

Auch diese Frage spielen wir in unserem Liebes-Diskurs durch. Mag sein, dass Wissenschaftler und Philosophen zu der Einsicht gelangen, besser auf einen derart unscharfen und vieldeutigen Begriff wie die Liebe zu verzichten, zumindest die Dichter und die Liebenden werden sich ihn nicht nehmen lassen, da doch gerade durch die ihm eigene Unschärfe und Vieldeutigkeit jeder sein besonderes Gefühl, das er für Liebe hält, in diesen Begriff hineinprojizieren kann.

 

Was bedeutet die Aussage, Liebe sei ein "ungesunder Ausnahmezustand"?

Jeder, der einmal verliebt war, kennt dieses Gefühl des Außer-sich-seins. Nicht von Ungefähr sind wir "krank" oder "verrückt" vor Liebe. Sie bringt uns aus dem seelischen Gleichgewicht. Wir alle haben schon erlebt, wie nahe die Liebesleidenschaft dem Leiden steht. Wäre mit Liebe nicht auch Schmerz verbunden, würden wir das merkwürdige Gefühl, das wir für den anderen hegen, gar nicht "Liebe" nennen. Wenn wir uns nach Liebe sehnen, dann sehnen wir uns auch nach diesem Schmerz. Das kann man durchaus für ziemlich krank halten!

 

Unterliegen wir alle einem Liebeszwang?

Liebe ist ein kultur- und epochenabhängiger Begriff. Unser gegenwärtiges Liebesverständnis unterscheidet sich elementar von der mittelalterlichen Minne oder der paulinischen Nächstenliebe. – Heute bezieht sich in der westlichen Welt der Liebesbegriff vor allem auf erotische Paarbeziehungen. Durch popkulturelle Mythen sind sie derart mit Lebenssinn und -glück aufgeladen, das man tatsächlich von einem "Liebeszwang" sprechen könnte. "Wer nicht liebt, verfehlt sein Leben!" lautet die popmediale Botschaft.

 

Wie weit ist Liebe kulturell geprägt?

Unser inzwischen fast religiös aufgeladener Liebesbegriff ist ein relativ junges Phänomen und hängt maßgeblich mit der fortgeschrittenen Säkularisierung und den veränderten Familienkonzepten zusammen. Eheschließungen sind keine politischen Bündnisse mehr, sondern emotionale Bindungen. Das irdische Leben, das vor noch gar nicht langer Zeit als "Müh und Arbeit" angesehen wurde, hat nun ein Glücksversprechen oder sogar ein von der Verfassung garantiertes Recht auf Glück einzulösen. Liebe, Sinn und Glück scheinen in unserer Kultur nunmehr fast untrennbar.

 

Was meinen Sie mit der "Widersprüchlichkeit der Liebe"? Gibt es Liebe ohne Leiden?

Widersprüchlich sind vor allem die Antworten, die wir auf die "Liebesfrage" geben. Jemand, der gerade frisch verliebt ist, wird die Liebe anders definieren als jener, dessen Liebe nicht erwidert wurde oder gerade gescheitert ist. Da wir Menschen nur als soziale Wesen denkbar sind und Liebe einen wesentlichen Teil unserer sozialen Bindungen bestimmt, hat sie fast ebenso viele und auch widersprüchliche Aspekte wie der Mensch Beziehungsmöglichkeiten. – Natürlich gibt es Momente reinen Glücks in der Liebe. Da es sich in der Regel aber eher um einen Prozess als um einen Augenblick handelt, kann ich mir den "Liebesroman" nicht ohne leidvolle Kapitel vorstellen.

 

Gibt es einen Unterschied zwischen emotionaler Liebe und körperlichem Trieb? Wo verläuft die Grenze?

Die Grenze verläuft auf jeden Fall nicht zwischen Trieb und Liebe. Diese Unterscheidung beruht auf dem alten, immer auch wertenden Dualismus von Körper und Seele oder Körper und Geist. Aber Liebe, Trieb, Begehren sind vom Körper nicht zu trennen. Unser Geist, unsere Seele, alle unsere Sehnsüchte und Gefühle sind Aspekte unserer Körperlichkeit. Unser Körper ist unsere Seele. – Allein der Begehrende kann eine Unterscheidung treffen zwischen Liebe und rein sexueller Lust. Einen "objektiven" Unterschied sehe ich nicht.

 

In Ihrem Briefwechsel kommen viele literarische Beispiele vor. Unterscheidet sich die Liebe in der Kunst denn gar nicht vor der Liebe im realen Leben?

Die Liebe in der Literatur (und anderen Künsten wie dem Film) unterscheidet sich von der Liebe im realen Leben, wie Literatur und Kunst sich vom Leben unterscheiden. Unterscheiden sie sich? – Literatur und Kunst sind ein integraler Teil des Lebens. Ohne ihre besondere Art, das Leben zu reflektieren (und zu transzendieren) wären sie keine Kunst. Und selbstverständlich ist die Liebe ein wesentlicher Teil dieses Lebens, über das Nachzudenken Kunst und Literatur sich zur Aufgabe gemacht haben, und das nicht selten tiefer und komplexer, als die Sozialwissenschaften es vermögen.

 

Die Fragen stellte Martin Bauer.

 


Michael Roes / Hinderk Emrich: Einige widersprüchliche Anmerkungen zur Vergeblichkeit der Liebe. Ein Gespräch. Aschaffenburg: Alibri 2015. 101 Seiten, kartoniert, Euro 9.-, ISBN 978–3–86569–186–6

 

Das Buch ist auch bei unserem Partner denkladen.de erhältlich.