"Luthers Erbe" – eine Kritik der Geschichte des deutschen Protestantismus

BONN. (hpd) Der Historiker Wolfgang Wippermann legt mit "Luthers Erbe. Eine Kritik des deutschen Protestantismus" ein Buch zum Thema vor, welche sich auf den Kontext von "Kirche und Staat", "Kirche und Krieg", "Kirche und Kapital", "Kirche und Antisemitismus", "Kirche und Antiziganismus" sowie "Kirche und Antifeminismus" bezieht. In gut verständlicher Form macht der Autor an vielen Beispielen die jeweiligen Verfehlungen deutlich, wobei aber nur am Rande nach den Bedingungsfaktoren für das Agieren oder Nicht-Agieren der Kirchen-Anhänger und –Funktionsträger gefragt wird.

Angesichts der für das Jahr 2017 vorgesehenen Reformationsfeierlichkeiten erschienen bereits einige Bücher, die ein kritisches Licht auf das Leben und Werk von Martin Luther werfen. Dabei blieb häufig die Frage ausgespart, inwieweit seine Auffassungen zur Benachteiligung von Frauen, Diffamierung von Juden oder Unterwerfung unter die Obrigkeit die evangelische Kirche prägten. Ihr geht der Historiker Wolfgang Wippermann in seinem Buch "Luthers Erbe. Eine Kritik des deutschen Protestantismus" nach. Über die Perspektive heißt es in der Einleitung: "Verfasst ist es … von einem protestantischen Profanhistoriker, der sich auch mit kirchen- und religionsgeschichtlichen Fragen und Themen beschäftigt. Wie in dem vorliegenden Buch geschah dies stets in einer kirchen- und religionskritischen Absicht und in einer ideologiekritischen Art und Weise" (S. 9). Der Professor für Neuere Geschichte an der FU Berlin, der auch als Lehrbeauftragter am Institut für katechetischen Dienst der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg lehrte, versteht sich demnach nicht als Atheist.

Gleichwohl nimmt er eine dezidiert kritische Position ein und fragt bereits zu Beginn nach den Gründen für eine falsche Entwicklung der deutschen Protestanten. Sie seien "vor allem deshalb 'in die Irre gegangen', weil sie Staat, Krieg und Kapital für gut, Juden, Roma und Frauen dagegen für böse gehalten haben. Die Verherrlichung von Staat, Krieg und Kapital 'im politischen Leben' und die Verdammung von Juden, Roma und Frauen 'mit politischen Mitteln' wurden mit Ideologien, das heißt mit Begriffen (ideo) und Wörtern (logien) begründet, mit denen etwas gerechtfertigt oder etwas eingefordert wird. Hier waren es die Ideologien des Autoritarismus, Bellizismus und Mammonismus sowie des Antisemitismus, Antiziganismus und Antifeminismus" (S. 7f.). Diese Ausführungen, welche die Kernpositionen des Buches enthalten, stehen auch für die inhaltliche Struktur des Werks. Wippermann benennt ein bestimmtes Konfliktverhältnis der Kirche und geht auf dessen historische Entwicklung mit einer Fixierung auf Luther bis in die Gegenwart ein.

Zunächst behandelt er "Kirche und Staat", wobei das Gebot des Gehorsams gegenüber der Obrigkeit im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht. Dem folgen Ausführungen zu "Kirche und Krieg", also zur Begründung von Kriegen von den Kreuzzügen bis zum Weltkrieg. Das Kapitel zu "Kirche und Kapital" problematisiert den Kontrast, der in der Beschwörung eines Engagements für die Armen und in der Positionierung für die Reichen bestand. Danach geht es um unterschiedliche Diskriminierungspraxen: "Kirche und Antisemitismus" behandelt die Judenfeindschaft von der Frühgeschichte des Christentums über Luthers Judenhass bis in die Gegenwart. "Kirche und Antiziganismus" konzentriert sich auf die Ablehnung der Roma und die fehlende Aufarbeitung dieser Verfolgung. Und "Kirche und Antifeminismus" thematisiert die Frauendiskriminierung von der "Hexenverfolgung" bis zu den frauenfeindlichen Positionen im 20. Jahrhundert. Wippermann beschreibt kein reines Negativ-Bild, sondern geht auch immer wieder auf gegenläufige und positive Tendenzen ein.

Gleichwohl bilden die Ausführungen zu den "Schattenseiten" den Schwerpunkt der Darstellung, die sich in allgemeinverständlicher Form an einen breiteren Leserkreis richtet. Wippermann kann mit eienr Fülle von Belegen die bedenklichen Entwicklungen in den genannten Kontexten deutlich machen. Dabei ignoriert er nicht andere bzw. oppositionelle Bestrebungen, die aber meist in der Minderheit blieben. Gerade aus analytischer Betrachtung vermisst man indessen Erörterungen zu den Ursachen: Wippermann berichtet als Historiker beschreibend über problematische Entwicklungen, fragt aber kaum nach den Gründen dafür in den Auffassungen oder Institutionen des Protestantismus. Er beklagt, dass die Kirche hier und da mehr hätte tun können. Dann stellt sich aber auch die Frage: Warum geschah dies nicht? Und schließlich hätte man gern mehr zur Gegenwart gelesen: Wippermann betont positive Änderungen und wenige Defizite. Wenn diese Einschätzung so stimmt, worauf sind diese Entwicklungen zurückzuführen? Und: Was bedeutet dies für den Protestantismus?


Wolfgang Wippermann, Luthers Erbe. Eine Kritik des deutschen Protestantismus, Darmstadt 2014 (Primus-Verlag), 224 S., 24,95 Euro