Jacques Tillys Aufruf zur Verteidigung des "liberalen Traums"

"Der IS braucht keinen Grund, um uns zu töten!"

Was ist nun der liberale Traum? Dieser besteht etwa in der Postulierung der universellen Geltung der Menschenrechte. Er besteht in dem Ideal einer wirklich pluralistischen Gesellschaft, in der jedem Einzelnen ein größtmöglicher Grad an Selbstbestimmung ermöglicht wird. Dieses Selbstbestimmungsrecht schützt das Individuum vor Kollektivzwang und Bevormundung durch Staat, Religion, Familie und festgelegte Geschlechterrollen. Dem Staat und der Justiz fällt die Aufgabe zu, den liberalen Ordnungsrahmen zu garantieren, in dem die verschiedensten Lebensformen friedlich und zivilisiert nebeneinander und miteinander existieren können. Es ist ein Traum, in dem es, um ein Beispiel zu nennen, weder den Staat noch die Gesellschaft und erst recht nicht irgendeine Religionsgemeinschaft auch nur im Geringsten etwas angeht, welcher erwachsene Mensch in gegenseitigem Einvernehmen mit wem auf welche Weise Sex hat. Es ist der Traum der Moderne, gespeist von den Werten des Humanismus und der Aufklärung. 

Dass wir im Westen diesen liberalen Traum in der Vergangenheit durch Sklaverei und Kolonialismus selbst verfehlt haben und noch immer vielfach unterbieten (Stichwort Guantanamo) ist unbestritten. Aber es lohnt sich, diese Ideale weiterhin offensiv zu verteidigen und sich, gerade heute, ihrer Fragilität und Verletzlichkeit bewusst zu werden. 

Denn momentan ist der liberale Traum in die Defensive geraten. Er wird diffamiert und zum neuen Totalitarismus einer aus dem Ruder gelaufenen Political Correctness hochstilisiert. Uneingeschränkte Liberalität bringe nur naives Gutmenschentum, Genderwahn, Homopropaganda, den Verlust von Ehre und Männlichkeit, von Spiritualität, von Heimat und ethnischer Zugehörigkeit mit sich. 

Das westliche, freiheitliche Gesellschaftsmodell führt direkt – so die Lesart - in einen sinnleeren und gottesfernen Hedonismus, führt zu Werteverfall und Dekadenz. Darin sind sich Putin, Pegida, Akif Pirincci und die Salafisten wirklich einig. Auch wenn Pegida und die Salafisten glauben, sie seien Todfeinde – ihre Schnittmenge ist viel größer, als sie wahrhaben wollen. 

Alle diese Menschen kommen mit dem Modernisierungsschub einer globalisierten Welt einfach nicht mit. Im Grunde führen sie alle ein verzweifeltes und letztlich dann doch aussichtloses Rückzugsgefecht. Sie sehnen sich zurück nach der vermeintlich heilen Welt der geschlossenen und autoritär geführten Stammesgesellschaften. Genau das war das Erfolgsrezept des europäischen Faschismus der 30er Jahre. 

Und zugegeben: Die Freiheit ist ja auch eine Zumutung. Ein Lebenssinn, ein verbindliches Lebensmodell ist in pluralistisch organisierten Gesellschaften nicht vorgegeben und auch nicht vorzufinden. Da muss sich jeder schon selbst bemühen. Freiheit kann eben auch Leere und Orientierungslosigkeit für denjenigen bedeuten, der von ihr schlicht und ergreifend überfordert ist. Deshalb rennen so viele junge Menschen zum IS und unterwerfen sich mit Lust der Geborgenheit, die eine totale Unfreiheit bieten kann. 

Dagegen wäre ja nichts einzuwenden. Wenn es denen Spaß macht… Das Problem ist nur, dass der IS, diese extremste Ausprägung des zeitgenössischen Autoritarismus, uns alle, das heißt den gesamten Rest der Welt, ebenfalls in die totale Unfreiheit zwingen will. Und das mit den Mitteln größtmöglicher Brutalität.

Wie sollen wir jetzt mit dieser Bedrohung umgehen? Diese Frage stellt sich allgemein, aber eben auch mit Blick auf die kommenden Rosenmontagszüge. 

Sicher nicht durch beschwichtigende Anpassung. Die absurde und absolut lächerliche Verhüllung der nackten Statuen auf dem römischen Kapitol vor drei Tagen während des Staatsbesuches des iranischen Präsidenten in Italien war sicher das falsche Zeichen gegenüber einer intoleranten Ideologie. Und falsch wäre es auch, sich jetzt in Spott und Satire zu "mäßigen”, um bloß niemanden zu reizen. Denn wo soll diese Anpassung jemals enden? Wann hätten wir uns denn in den Augen der Dschihadisten genug angepasst? Wenn weltweit alle Frauen in der Burka stecken?

Der Chefredakteur von Charlie Hebdo, Gerard Biard, hat jüngst gesagt: "Aufhören, wir selbst zu sein, wird uns nicht vor Terrorismus und Totalitarismus schützen. Uns zu ändern, wäre sinnlos. Der IS braucht keinen Grund, um uns zu töten.” 

Recht hat er. Die pure Existenz von uns allen hier, die wir hier in diesem Raum versammelt sind, ist an sich schon ein todeswürdiges Verbrechen. Denn sie hassen alles an uns, unsere gesamte Lebensform, unser Lachen, unsere Freiheit, unser gesamtes Sein in allen seinen lebenswerten Facetten. Wir alle haben, so deren menschenverachtende Sichtweise, den Tod verdient. Und da ist es völlig egal, wie wir uns verhalten.

Das wirksamste Mittel gegen den Terror ist es, sich einfach so wenig beeindrucken zu lassen wie möglich. Gelassen bleiben. Weitermachen. Wir sollten uns gar nicht erst auf deren grausame Spielregeln von Angst, Hysterie, Vergeltung und Hass einlassen. Die Reaktion des norwegischen Ministerpräsidenten Jens Stoltenberg auf den Terroranschlag des rechtsradikalen Anders Breivig im Jahre 2011 war vorbildlich. Er redete nicht von Krieg, Gesetzesverschärfungen und Schuldzuweisungen. Er sagte schlicht: "Unsere Antwort lautet: Mehr Demokratie, mehr Offenheit, mehr Menschlichkeit”. 

Und als Rheinländer ergänze ich: Mehr Lebensfreude, mehr Karneval. Helau! 


Der WDR strahlt in seinem Fernsehprogramm am 7. Februar um 17.50 Uhr eine halbstündige Dokumentation über Jacques Tilly aus (Wiederholung am 9. Februar um 0.15 Uhr). Am Mittwoch, dem 10. Februar, ist ab 14.30 Uhr eine 45-minütige Langversion des Films auf WDR zu sehen: https://presse.wdr.de/plounge/tv/wdr_fernsehen/2016/01/20160122_jacques_tilly.html