Gisela von Wysockis Roman "Wiesengrund"

Adorno – der Zauberer

Gisela von Wysocki hat selbst bei Adorno studiert. So kann man erwarten, in dem zweiten, dem neuen Roman der heute 76-jährigen nun einiges über Adorno als Professor zu erfahren. Denn so oder so ähnlich mag es wirklich gewesen sein: Adorno – ein Zauberer, ein Wortzauberer, der sich selbst nur zu gern von Frauen bezaubern ließ. Angehimmelt und charmant. Der Koautor der "Dialektik der Aufklärung" philosophierte, wo immer er auch war.

"Wiesengrund" ist die Geschichte einer Faszination und ein Entwicklungsroman mit realem Hintergrund. Ein junges Mädchen, Schulmädchen noch, in Salzburg Tochter eines Astronomen, hört unter der Bettdecke heimlich die philosophischen Vorträge dieses Wortmagiers aus dem Nachtstudio einer Radioanstalt, während der Vater nebenan die Auswertung seiner Messungen voranbringt. Es ist weniger eine durch Apparate verstellte Welt, vielmehr ermöglichen die Instrumente die Erkenntnis erst, dem Vater und der Tochter. Aber es entsteht eine fragmentarische Erkenntnis und eine einsame.

Die heranwachsende Tochter dieses alleinerziehenden Vaters beschließt in Frankfurt bei Wiesengrund selbst zu studieren. Da erlebt sie ihn nun aus der Nähe: Seine Vorlesungen vor allem als Sprachmelodien, als Wortfuge. So groß ist die Faszination, dass sie den Blick und den Verstand beinahe verstellt. Fast wird die Geschichte die einer Dekonstruktion. So genau versucht das junge Mädchen sich alles genau einzuprägen, jede Mimik, jedes Wort, jedes Detail seines Gesichts, dass, was sie schildert, einem kubistischen Gemälde gleichkommt. Zersplittert, an seiner eigenen Fülle zerberstend.

Gisela von Wysocki
Gisela von Wysocki, Foto: © Suhrkamp Verlag

Der Roman ist die Chronik einer Emanzipation. Vom Vater, der die Tochter einst maßlos erschrocken hat mit der Vorstellung, dass Sterne sterben. Also nichts bleibt. So sucht das Mädchen ihren eigenen ganz persönlichen Stern, dort in der fernen Stadt unter den Menschen.

Wiesengrund alias Adorno lehrt sie vor allem dies: Deuten, die Wirklichkeit zu lesen wie einen Text. Philosophie als Aperçu, als Pointe, als Kommentar zur Wirklichkeit der Menschen. Dieses Wirkliche, die Realität, erscheint zu jener Zeit den spöttischen Intellektuellen vor allem amüsant, manchmal ist sie auch spießig. Unruhe liegt in der Luft. Revolte.

Da wird auch das Erbe des Vaters fruchtbar, jetzt, da es um Menschen geht, die dem Chamäleon und der Eidechse in der Zoohandlung mitunter näher scheinen als den Sternen: Die Dinge ohne bevorzugte Perspektive zu betrachten, so dass alles gleichwertig ist, ohne Fokussierung, vielmehr als ein Hologramm gesehen. Ein solches Vorgehen kürt die Protagonistin wie die Autorin Wysocki selbst zur Methode.

Das bedeutet aber auch die Emanzipation von der Faszination, die ihr den Weg zur Erkenntnis zu verstellen drohte. Wiesengrund entpuppt sich zwar als bloß platonischer doch umso getriebener Womanizer. Der Vater will die junge Frau als Assistentin nach Salzburg zurückrufen. Er braucht sie als Mitarbeiterin für seine Arbeit. Sie bleibt trotzdem in Frankfurt, nun aber mit eigenem Blick auf die Welt. Das heißt wohl von nun an selbst schreibend. Das ist, was Philosophie im besten Sinne leisten kann: Emanzipation, die es nie nur als Theorie gibt.

Gisela von Wysocki: "Wiesengrund", Suhrkamp Verlag Berlin 2016, 265 S. 22 Euro