Argumente? Kritik? Diskussion? Unser Denken wird vom Skandal beherrscht

Aufregung, Aufregung über alles

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Handyvideos von Gewalttaten, abstoßender Gangstarap, Spahn ... Skandale regieren! Wer Aufmerksamkeit will, muss brutal, gnadenlos und dumm sein. Oder so tun. Unsere Kultur ist eine der Aufregung geworden. Unseren Autor regt das mächtig auf.

Unser Land ist ein Land der Aufregung geworden. Am Berliner Helmholtzplatz regt sich einer auf, weil jemand anderes eine jüdische Kopfbedeckung trägt, und geht mit dem Gürtel auf den los. Gleich bei mir um die Ecke. Meinen Nachbarn B. regt das wiederum so auf, dass er das Video des Vorgangs auf Facebook teilt: Antisemitische Attacke, bei uns im Kiez! Das regt mich dann wieder auf: Tagtäglich passieren so viele furchtbare Gewalttaten auf der Welt, Menschen werden gesteinigt, geköpft, verbrannt, vergewaltigt, eingekerkert, gefoltert, mit Raketen beschossen. Aus religiösen und was auch immer für anderen idiotischen Gründen. Dass mein Nachbar jemals ein Video von einer dieser Grausamkeiten gepostet hätte, davon ist mir nichts bekannt. Aber jetzt.

Prenzlauer Berg! Denke ich. Ist nicht Prenzlauer Berg Teil des Problems, das Sahnehäubchen oben auf dem Eisberg einer kalten Weltordnung? Sind nicht wir, mein Nachbar und ich, in jeder Sekunde die Nutznießer einer ungerechten Welt, die zu großen Teilen von uns reichen Industrienationen ausgebeutet wird? Die nur deswegen immer weiter funktioniert, weil die Ärmeren und Ungebildeten mit Hilfe von Rassismus, Sexismus, religiösem Vorurteil etc. aufeinandergehetzt werden, statt die Strukturen ihrer Ausbeutung anzugreifen? Sind nicht wir in einer globalisierten Welt das, was im 18. Jahrhundert der feudale Adel war, abgeschottet, reich, ignorant, den Kopf voller Zeitvertreib?

Ein junger Mann greift einen anderen jungen Mann auf der Straße an. Mit einem Gürtel. Es ist dies nicht in Lichtenberg passiert, nicht in Kundus, nicht in Aleppo. Es hatte die Frechheit, in Prenzlauer Berg zu passieren. Antisemitischer Angriff, sagt mein Nachbar, als er das Video teilt, zum Kotzen.

Ist es ja auch. Antisemitisch oder nicht, Religionen hin oder her, ich finde es grundsätzlich schlimm, wenn Menschen andere Menschen auf der Straße angreifen. Ich denke grundsätzlich: Etwas läuft schief bei uns, wenn Derartiges passiert. Woher kommen die Aggressionen in den jungen Männern, die sich rund um den Globus verprügeln, foltern, ermorden? Mir persönlich widerstrebt es ja, die jungen Leute da in die Schubladen einzuordnen, in denen man sie von Kind an abgelegt hat und die sie als Teil ihrer Identität begreifen: Ich bin Muslim, du nur Jude. Ich bin Buddhist, du nur Muslim. Ich bin evangelikaler Christ, du Ungläubiger brennst bald in der Hölle. Das ist ja alles Schwachsinn von derselben Stange. Junge Männer, denen die Welt keine Möglichkeit bietet, sich sinnvoll einzubringen, brodeln in ihrem Aktionsdrang, und stellen ihn dann, da sonst nichts zu tun bleibt, dem vorherrschenden Hass zur Verfügung.

Ich schaue mir das Video an. Ich sehe einen jungen Mann, zarte Gesichtszüge, aber gefangen in der Männlichkeitspose, voller rasendem Hass, der aus der Verdummung wächst und die Verdummung wieder zeugt. Der junge Mann kommt aus dem Nichts und greift an, wie ein Videospielmonster. Der junge Mann hat in diesem Clip keine Vorgeschichte, der ganze Vorfall hat keine Vorgeschichte, das gesamte Video löst so viele Fragen in mir aus: Wie hat sich dieser Gewaltausbruch angebahnt? Warum hat der Angreifer einen Gürtel in der Hand? Warum läuft der Angegriffene nicht weg oder verteidigt sich, sondern filmt? Was meint er, wenn er seinem Angreifer sagt: "Jude oder nicht Jude, du musst damit klarkommen"? Woher nimmt er die Geistesgegenwart, direkt aus der Attacke heraus seine Striemen dokumentarisch zu filmen? Irgendetwas scheint mir hier noch ungeklärt zu sein, doch der Aufschrei gellt schon um die Welt: Antisemitischer Angriff in Berlin!

Ich will nicht spekulieren, wieviele wesentlich schlimmere Gewaltakte auf dieser Welt passiert sind und es noch nicht mal in den örtlichen Polizeibericht geschafft haben. Prenzlauer Berg? Das Epizentrum der Erregbarkeit. Wenn hier eine Eisbude die Preise erhöht, muss ganz Deutschland am nächsten Tag darüber lesen. Gürtelangriff? Die Gewalt der Welt da unten dulden wir hier nicht. Zum Video ist ein Kommentar von Levi Salomon beigegeben, Sprecher des "Jüdischen Forums für Demokratie und gegen Antisemitismus". Er verurteilt, wie jeder denkende Mensch, diese Tat. "Es ist unerträglich anzusehen, dass ein junger jüdischer Mann auf offener Straße im gut situierten Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg angegriffen wird."

Mir stößt das, in meiner Aufgeregtheit, natürlich auf. "Gut situiertes Viertel", was soll denn dieser Hinweis? In Reinickendorf wäre das dann weniger schlimm, weil erwartbare Normalität? Ich stelle, als Antwort auf meinen Nachbarn, bei Facebook diese Frage. Es geht ein bisschen hin und her. Es dauert nicht lange, bis ich für ihn so eine Art subkutaner Antisemit bin. Es "stehe uns nicht zu", Levi Salomon zu kritisieren, sagt mein Nachbar, er sagt, da finde ein antisemitischer Angriff statt, und ich hätte nichts Besseres zu tun, als einen Juden zu kritisieren.

So schnell geht das. Aufgeregtheit ist die Säurewanne des Arguments, die Mutter aller Feindbilder und Schubladen. Mir wäre niemals in den Sinn gekommen, dass irgendwer aufgrund seines religiösen Bekenntnisses nicht kritisiert werden dürfe, und mir ist es vollkommen schnurz, ob das Bekenntnis nun ein christliches, jüdisches, muslimisches oder was auch immer sei. Die Leute sollen doch glauben, was sie wollen, das verleiht ihren Ansichten und Äußerungen keine Aura der Unhinterfragbarkeit. Ein antisemitischer Übergriff in Prenzlauer Berg wäre ein besonderer Skandal? Ist womöglich die Mittagsruhe gestört worden?

Stecke ich mich also an. Rege mich auch auf. Generell regt mich auf, wie sehr alle gesellschaftlichen Diskussionen nur noch aus Aufgeregtheiten konstruiert werden. Täglich werden Skandale und Skandälchen gesucht, nur selten wird über die eigentlichen, großen, grundlegenden Skandale gesprochen, auf denen unsere Weltgesellschaft der Ungerechtigkeit basiert, und die jeden Menschen auf der Erde wirklich etwas angehen, ob er nun auf der Täter- oder Opferseite steht. Statt einer Analyse aber: Aufreger, Aufreger, Aufreger. Wer etwas werden will, muss nur etwas Dummes bis Widerliches sagen, dann wird sein Name ganz groß, ob das nun literarische Autoren sind, Deppenrapper, CDU-Nachwuchsminister oder gar ganze Parteien, die nur über Aufmerksamkeitserzeugung per Tabubruch bis in den Bundestag kommen.

Eine Abart der Aufmerksamkeitserzeugung ist dabei der Terrorismus, der ja vor allem einen Zweck hat: Schockschlagzeilen in den Medien zu generieren. Um den Ruhm der Hintermänner zu erhöhen und ihnen neuen Nachwuchs zuzutreiben. Mit dem 11. September 2001, dem bislang größten Aufmerksamkeitsprojekt des Jahrtausends bislang, wurde sogar ein ganzer Diskurs durchgedrückt: "Die Muslime" gegen "den Westen". Viele haben seither ihr Süppchen darauf gekocht, von den religiösen Extremisten über Tilo Sarrazin über die AfD bis hin zu den Journalisten: Was sich verkauft, sind Schlagzeilen. Was sich verkauft, sind einfache Wahrheiten. Jude. Muslim. Prenzlauer Berg. Gewalt. Das ist der Knüller des Tages, da sind alle Bahnen gelegt, an denen die Aufregung entlangrattern kann.

In einem anderen Thread auf Facebook ist eine Frau namens Laura noch mutiger als ich. Sie beruft sich auf Skepsis, Neugier und kritisches Denken angesichts des Videos, das da plötzlich aufgetaucht ist (obwohl es zunächst mal nur der Polizei hätte übergeben werden müssen) und sofort in die aktuelle Narration eingefügt wurde: Der Antisemitismus in Deutschland sei wieder auf dem Vormarsch – erst recht, seit die syrischen Bürgerkriegsflüchtlinge im Land sind.

"Nichts für ungut", sagt Laura, "Ich lehne es ab, jemanden mit einem Gürtel zu hauen (solange er es nicht will), und insbesondere lehne ich es ab, jemanden anzugreifen wegen seiner Religion. Ob nun mit einem Gürtel oder mit was auch immer. Aus einem Videoausschnitt abzuleiten, dass wir uns hier auf Zeiten zubewegen, in denen ein Jude nicht mehr auf die Straße gehen kann, finde ich völlig übertrieben. Sich zum Sprachrohr dafür zu machen, empfinde ich als unpassend. Es ist nämlich kein Zufall, dass dieses Video hauptsächlich AfD-ler anzieht."

Da kommt natürlich Gegenwind auf im Thread. Als Einzige skeptisch, als Einzige neugierig, und klar zu keck für die Atmosphäre im Umfeld fragt Laura: "Was ist auf dem Videoausschnitt zu sehen? Ein Mann, der einen anderen mit einem Gürtel schlägt. Das ist kein gefährlicher Angriff. Kennt jemand die Vorgeschichte? Vielleicht hat der Mann mit dem Handy den Kampf provoziert? Vielleicht genau deswegen, um ein schickes Video davon machen zu können? Das Problem ist: Das ist Euch egal. Es geht Euch gar nicht um diesen Fall. Ihr wollt Euch positionieren. Ihr wollt ein klares Feindbild. Ihr wollt Euch selbst engagiert und gut denken. Wisst Ihr was? Genau so funktioniert auch die AfD."

Was nun folgt, gibt Laura leider recht. Eine Lawine an übelsten Beschimpfungen geht nun über ihr nieder. "Linksradikale Hetzerin", "empathielos und ekelhaft", "dreistes Leugnen jeden Antisemitismusproblems", "perfide", "Ihr widerlicher Versuch mit haltlosen Unterstellungen Victim-Blaming zu betreiben macht ihre Position auch nicht besser", "Ihre Probleme sind beeindruckend. Ich würde Sie gern abschieben.", "Du bist wirklich saudumm", "Die Alte gehört in die Psychiatrie".

Das alles äußern Menschen, die sich selbst vermutlich als eher aufgeklärt begreifen. Ich kriege den Mund kaum zu. Gewalt zeugt Gewalt. Aufregung frisst Hirn auf. Wer solche "Linken" hat, braucht keine AfD mehr.

Unser Land ist ein Land der unbedingten Schnappatmung geworden. Mit den Terrorangriffen vom 11. September 2001 wurden wir jäh aus unserer abgeschotteten westlichen Kuschligkeit gerissen, wurde uns klargemacht, dass die Wohlstandsverlierer aus fernen Weltgegenden auch in unserem Elfenbeinturm Feuer legen können; wurde uns klargemacht, dass die Welt nicht nur zusammenwächst, indem alle Geldströme auf unsere Länder zulaufen, sondern eben auch eine Gewalt, die wir bislang nur aus den Nachrichten kannten, eine Gewalt, die sich aus Ausgrenzung, Ausbeutung, Unbildung ergibt. Hat man erst einmal eine Masse Mensch in diesen Stand der Unwürde gebracht, so findet sich immer auch ein Anführer, gern religiöser Prägung, der die Leute zu Mord und Selbstmord anstachelt. 

Ungefähr zeitgleich mit den Anschlägen des 11. September begann auch die bis heute anhaltende massive Krise der Zeitungen, denen das Internet immer mehr die Arbeitsgrundlage entzog: Die Werbeeinnahmen brachen in einem atemberaubenden Tempo weg, Auflagen sanken, Mitarbeiter verloren ihre Jobs und die anderen lebten in einem Klima der Angst weiter. Der Konkurrenzdruck, der sich im Journalismus auch als Zeitdruck auswirkt, wuchs. Das Recherchieren wurde schludriger, denn Recherche kostet ja Geld. Zeitgleich fanden über das Internet die bis dahin vereinzelt vor sich hin wirkenden Radikalen und Spinner zusammen und bestätigten einander stärker als sie es zuvor je getan hatten.

Seitdem hat das Zeitalter der Radikalen und der Spinner begonnen. Früher hätte man sie mit gutem Grund wegignoriert, die Impfgegner, Flachwelttheoretiker und Ausländerfeinde. Heute sieht das anders aus. Auf jede Gewalttat, jede wirre Äußerung stürzen die Medien sich dankbar, in der Hoffnung, Auflage oder Klicks generieren zu können. Jede Mordtat im Provinznest, wie es sie nun mal leider schon immer gegeben hat, wird zur allgemeinen Sensation aufgeblasen, immer mehr Diskurse werden konstruiert, die auf Gewalt und Dummheit nur warten.

Reichsbürger? AfD? Sarrazin? "Heimat"? Die Medien stürzen sich auf alles, was Tabus bricht. Weil sie meinen, nicht anders überleben zu können. Befeuert wird der Prozess von den sozialen Medien im Netz, wo die unrecherchierte, unkommentierte Aufregernachricht einen Platz und eine enorme Wertigkeit bekommt. Bilder, dazu bewegte, haben große Wirkmacht, sie fräßen sich in die Gehirne. Rassistische Attacken unter jungen Männern – glaubt eigentlich irgendjemand ernsthaft, dass das ein neues Phänomen wäre?

Diese Attacken hat es schon immer gegeben, und da unsere Gesellschaft nicht darauf ausgelegt ist, den chancenlosen Perspektiven aufzuzeigen, die Abgehängten wieder einzusammeln, die verschiedenen Kulturen zusammenzubringen, oder sich um Menschen angemessen zu kümmern, die wegen eines Bürgerkriegs ihre Heimat verlassen mussten; da die unbarmherzige Geldmaschine des Neoliberalismus einen Bodensatz von Ausgegrenzten benötigt, um existieren zu können, daher werden solche Attacken auch weiterhin passieren. Wenn es Videos davon gibt, werden sie von den Medien begierig aufgegriffen werden. So schnell und ungeprüft wie möglich.

Der Angegriffene vom Helmholtzplatz war in den Medien (und bei Levi Salomon) zunächst Jude, dann wurde er zum Atheisten mit Kippa, zwischendurch war davon die Rede, er habe "ein Experiment" durchführen wollen. Das ist nun wieder widerrufen. Klar scheint zu sein, dass der Mann mit der Kippa auf mögliche Aggressionen vorbereitet war, vielleicht erklärt das ja seine relativ abgebrüht erscheinende Reaktion. Wenn es zu einem Gerichtsverfahren kommt, werden hoffentlich Zeugenaussagen mehr Klarheit in den Hergang des Angriffs bringen. Wenn es zu einem Gerichtsverfahren kommt, wird die zunächst unverpixelte weltweite Verbreitung des Videos – ein kleiner Skandal aus rechtsstaatlicher Sicht, daher nicht weiter beachtet – dem Täter sicher strafmildernd angerechnet.

Aber bis dahin schiebt sich noch viel Wasser die Spree hinunter. Bis dahin werden viele junge Männer viele andere junge Männer wegen irgendeinem bekloppten Vorurteil attackieren. Populisten jedweder Couleur werden ihre Reichweite vergrößern mit jedem Unsinn, den sie raushauen – weil sie sich auf den absoluten Willen zur Erregung in den Medien und den sozialen Netzwerken verlassen können. Zuspitzung, Konflikt und Skandal regieren die Öffentlichkeit, Einordnung und Analyse werden nicht mehr abgerufen. Es ist kein Wunder, dass eine doch eher kleine Partei wie die AfD seit Jahren den öffentlichen Diskurs  beherrscht. Sie ist die Einzige, die zuverlässig den Stoff liefert, an dem wir alle hängen.