Austritts-Lawine nach dem Missbrauchsgutachten

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Es ist eine "Bilanz des Schreckens", ein Dokument des Wegsehens und Vertuschens – und das inmitten der Institution, die so gern Deutungshoheit in Fragen der Moral beansprucht. Die Veröffentlichung des Münchner Missbrauchsgutachtens vor gut einer Woche, am 20. Januar, ließ bei Gläubigen auch die letzten Illusionen über die Vertrauenswürdigkeit "ihrer" Kirche verpuffen. Für nicht wenige war es der entscheidende Anstoß, der Institution auch formal den Rücken zu kehren.

So verzeichnen die Behörden seither einen enormen Ansturm von Austrittswilligen. Allein in München hat das Kreisverwaltungsreferat (KVR, die Ordnungsbehörde) etwa 650 Austritts-Termine vergeben – laut einem KVR-Sprecher mehr als doppelt so viele wie sonst im gleichen Zeitraum. Die Zahlen sind nicht nach Konfessionen aufgeschlüsselt. Um die hohe Nachfrage zu bewältigen, will das Standesamt die Öffnungszeiten erweitern und Personal aufstocken. Weiter weist die Stadt darauf hin, dass der Austritt auch schriftlich erklärt werden kann. Wie das genau funktioniert, ist hier erklärt.

Mit einem Run auf die Austritts-Stellen rechnen auch die Nachbarstädte Regensburg, Ingolstadt und Würzburg. Würzburg verzeichnet seit Veröffentlichung des Gutachtens bereits 50 Terminanfragen – fünfmal so viele wie im gleichen Zeitraum 2021. Deshalb bietet die Stadtverwaltung ab Februar täglich 22 zusätzliche Termine an. Dieses Jahr hatten die Behörden schon vor Veröffentlichung des Gutachtens viel zu tun: Bereits 109 Menschen kehrten 2022 in Würzburg den Kirchen den Rücken, darunter 70 Katholikinnen und Katholiken.

Regensburg und Ingolstadt wollen ebenfalls mit erhöhten Kapazitäten auf die erhöhte Nachfrage reagieren. In Ingolstadt seien die Termine bis Mitte März ausgebucht, heißt es. Ein ähnliches Bild zeigt sich auch in Bamberg. Dort erklärten seit dem 21. Januar – dem Tag nach Veröffentlichung des verheerenden Missbrauchsgutachtens – 21 Personen ihren Kirchenaustritt. Seit Jahresbeginn verzeichnen die Behörden 83 Austritte, "signifikant mehr als in den Vorjahren", so ein Sprecher der Stadtverwaltung.

Etwas mehr Geduld benötigen Austrittswillige in Nürnberg, denn dort müssen die Termine zwei Wochen im Voraus gebucht werden. Wer sich also aufgrund des Gutachtens zu diesem Schritt entschieden hat, kommt frühestens in einer Woche an die Reihe. Doch auch die bisherigen Zahlen zeigen, dass die Kirchenflucht anhält. Mit 371 Austritten – Katholiken wie Protestanten – verzeichnen die Behörden eine Steigerung um 73 Prozent gegenüber dem gleichen Zeitraum 2021.

Die Kirchenchefs bemühen sich währenddessen um Schadensbegrenzung. Kardinal Marx räumte gestern eigene Fehler im Umgang mit den Missbrauchsvorwürfen ein und übernahm "als amtierender Erzbischof moralische Verantwortung". Um Entschuldigung bat er sowohl bei den Opfern als auch bei den Gläubigen, "die an der Kirche zweifeln, die den Verantwortlichen nicht mehr vertrauen können und in ihrem Glauben Schaden genommen haben". Bei all diesen Eingeständnissen wolle er dennoch zunächst im Amt bleiben. Ein Rücktrittgesuch des Erzbischofs 2021 hatte Papst Franziskus abgelehnt und Marx mit der Aufarbeitung des Missbrauchsskandals beauftragt.

Ein anderer einflussreicher Kirchenmann, Domdekan Lorenz Wolf, kündigte indes an, seine Ämter niederzulegen. Noch ist der Kirchenrechtler Wolf für die kirchliche Gerichtsbarkeit im Erzbistum zuständig, ferner hat er den Vorsitz im BR-Rundfunkrat.

Dass die Gläubigen auch auf lange Sicht ihre Konsequenz aus dem Missbrauchsskandal ziehen, zeigt sich in Köln, wo Kardinal Woelki und seine Seilschaft die Aufarbeitung der Vorfälle über Jahre verschleppten. 2021 haben fast 20.000 Menschen in der Domstadt ihren Austritt aus der Kirche erklärt – so viele wie nie zuvor in einem Jahr. In ganz NRW zählten die Behörden 155.322 Austritte, erheblich mehr als im bisherigen Rekordjahr 2019, als 120.188 Schäfchen der Kirche den Rücken kehrten. Dass die Zahl 2020 zwischenzeitlich auf 89.694 gesunken war, ist auf die Einschränkungen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie zurückführen, in deren Verlauf die Amtsgerichte erst allmählich die Möglichkeit des Online-Austritts eingerichtet haben.

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