Kommentar

Da, ein unmoralischer Heide, opfern wir ihn unserem Gott!

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Die Kirche gilt trotz unzähliger missbrauchter Kinder erstaunlicherweise noch immer als moralische Instanz.

Wie viele Kinder müssen eigentlich noch von der katholischen Kirche missbraucht werden, bis wir kapieren, dass frommer Glaube Menschen nicht automatisch davor bewahrt, zu widerwärtigen Monstern zu werden? Fragt Kommentator Jan Hegenberg.

Ich bin ein Ungläubiger. Ein Heide. Ein Gottloser. Ich dachte früher immer, das sei ein wertfreier Begriff, aber tatsächlich schwingt hier mit, dass dem Gottlosen nicht zu trauen ist. Dass er unmoralisch handelt. Der Duden führt das Wort als Synonym zu "verwerflich". Die Eltern meiner Kumpels, die im Alter von 14 Jahren Bibelstellen auf Kerzen geschrieben hatten, primär um dafür mit einigen tausend Mark belohnt zu werden, beäugten mich argwöhnisch, weil ich keinem Ritual folgte, in dem ich meinen Glauben öffentlich bekräftigte.

Wie soll aus dem Jungen denn was werden, wenn er nicht an Gott glaubt? In dieser Frage schwingt oft der Irrglaube mit, Atheisten könnten eher auf die schiefe Bahn geraten, weil sie ja keine Bestrafung durch den Schöpfer des Universums befürchten müssen. Generell ist das ein seltsames Konzept von Moral, in dem ich mich nur deswegen moralisch verhalte, weil ich sonst bestraft werde. Nach der Logik ist der Klassenschläger, der auf dem Schulhof nur deshalb keinen verkloppt, weil die Pausenaufsicht ihn auf dem Kieker hat, ein Vorbild an Anstand und Moral.

Ich hingegen verhalte mich nach einer alle Mitgeschöpfe einbeziehenden Ethik, einfach weil ich weiß, dass es falsch ist, Menschen und Tieren weh zu tun. Ganz schön verwerflich, was? Und es sind halt nicht nur spießige Eltern meiner Schulkumpels, die über meine angeblich unzureichende Moral urteilen, sondern Personen mit prominentem Rang und Namen: Bischof Algermissen aus Fulda ließ in einer Predigt verlauten, Menschen ohne Auferstehungsglauben könnten zu einem "großen Sicherheitsrisiko" für die Mitwelt werden, denn ihre Hektik und Daseinsangst ließen sie "zuschlagen und zerstören".

Der katholische Schriftsteller Martin Mosebach meint, die Verbindung zu Christus bringe die "Fähigkeit zum Menschsein erst zur Vollendung", Unreligiöse seien "in ihrer Vollausbildung als Menschen beeinträchtigt", ein Leben in völliger Abkehr von Gott sei eine "reduzierte Existenz". Die seelische und auch die rationale Fülle des Menschseins sei dann nicht gegeben, wenn die Verbindung zum Schöpfer verödet ist. Der Schriftsteller und Publizist Navid Kermani meint, der religiöse Analphabetismus sei, wie jede Form der Ignoranz, problematisch, weil er zu einer grundlegenden ästhetischen wie auch moralischen Verarmung der Gesellschaft führe. Laut der Berliner Zeitung unterstellte Katrin Göring-Eckhardt von den Grünen Atheisten bereits kognitive Störungen, weshalb das komplexe Christentum "verständlich und lebensnah" vermittelt werden müsse. Der Focus titelte 2016 "Was Atheisten mit Psychopathen gemeinsam haben".

Das wäre alles schon seltsam genug, wird aber noch seltsamer dadurch, dass ausgerechnet die katholische Kirche regelmäßig für unfassbare Schlagzeilen sorgt. So mussten wir letzte Woche lesen, dass im US-Bundesstaat Pennsylvania über 300 katholische Priester seit den 40er Jahren mehr als 1000 Kinder missbraucht haben. 1000 Kinder. Und das klingt auch noch sehr verharmlosend, weil "Missbrauch" in diesem Zusammenhang ein furchtbar schlechtes Wort ist. Das klingt, als wenn jemand den Aufschnitt im Gemüsefach aufhebt oder mit dem Rad auf dem Gehweg fährt. Wir reden hier aber von systematischer sexueller Gewalt gegen Kinder, oftmals gegen die Schutzbefohlenen der Täter. Viel ungeheuerlicher geht es eigentlich gar nicht, der deutsche Sprachschatz hält keine wirklich adäquaten Adjektive bereit für derartige Scheußlichkeiten.

Wir reden von 1000 zerstörten Leben. Von Menschen, die nie darüber hinwegkommen werden, die Gefahr laufen, psychisch zu erkranken oder drogenabhängig zu werden. Denen man ihre Kindheit genommen hat. Und das sind "nur" 1000 Kinder in Pennsylvania. Wenn man sich den Wikipedia-Artikel "Sexueller Missbrauch in der römisch-katholischen Kirche" in ein Word-Dokument kopiert, ist es in Schriftgröße 12 Arial 133 Seiten lang und listet Fälle vom beschaulichen Speyer bis ins ferne Neuseeland auf.

Es wird manchmal dagegengehalten, dass es sexuellen Missbrauch auch außerhalb der Kirche gibt, was zwar leider der Fall ist, mich aber zu der Tat führt, die in meinen Augen noch abscheulicher ist als der Missbrauch selbst: das systematische Vertuschen dieser Fälle. Wer auch nur einen Funken Anstand im Leib trägt, der muss bei Bekanntwerden solcher Grausamkeiten umgehend alles dafür tun, den Opfern zu helfen und weitere Übergriffe zu verhindern. Die katholische Kirche hat bis in den Vatikan hinein jedoch in zahllosen Fällen genau das Gegenteil getan: Die betroffenen Familien wurden zum Schweigen gedrängt, die Täter wurden versetzt.

Das bedeutet, dass straffällig gewordenen Angestellten, die sich bereits an Kindern vergangen hatten, die komfortable Möglichkeit geboten wurde, weiteren Kindern in anderen Gemeinden Gewalt anzutun. Und die Beteiligten mussten befürchten, dass genau das passieren würde. Spielte in deren Moral aber keine Rolle. Kein Gottesglaube, keine Frömmigkeit und keine Bibelstelle hat diese Leute davon abgehalten, über Jahrzehnte hinweg sexuelle Gewalt gegen Kinder in ihrer eigenen Organisation zu dulden oder sogar zu fördern.

Ich hätte also eine Bitte: Wenn das nächste Mal jemand in ein Mikrofon spricht und sagt, dass Atheisten zu einem Sicherheitsrisiko werden können, dass sie eine reduzierte Existenz leben, dass sie kognitiv gestört und moralisch verarmt sind, können die Interviewer dann bitte zurückfragen, ob solche Urteile in Anbetracht der systematischen Misshandlung von tausenden Kindern weltweit durch tiefreligiöse Menschen nicht auf ganz schön wackligen Füßen stehen?

Für Moral brauche ich nämlich nicht zwingend Religion. Und für Religion offenbar auch nicht zwingend Moral.

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PS: Nein, ich habe überhaupt nichts gegen Gläubige und auch nicht gegen Katholiken (dazu bin ich auch mit zu vielen verwandt oder befreundet). In diesem Land herrscht Glaubensfreiheit, eine der in meinen Augen großartigsten Errungenschaften überhaupt.

Wenn Menschen den Gott der Bibel oder Vishnu oder Poseidon anbeten möchten, dann ist das für mich so relevant wie die Frage, was für Klamotten sie tragen oder mit wem sie wie Sex haben (gar nicht). Ich diskutiere tatsächlich gerne über die Frage, ob es einen Gott gibt, aber nicht, um den Diskussionspartner als blöd oder schlechten Menschen oder so was darzustellen.

Meine Kritik speist sich aus den Situationen, in denen manche Gläubige mir in mein angeblich reduziertes Leben reinquatschen wollen. Ich kenne aber auch eine Menge Gläubige, die mir hier zustimmen und mich genau so akzeptieren, wie ich sie.

Übernahme des Textes mit freundlicher Genehmigung des Autors von graslutscher.de.