Kommentar zur deutschen MeToo-Debatte

Dieter Wedel – ein Opfer publizistischer Verfolgung?

justizia.jpg

Die strafprozessuale Unschuldsvermutung verbietet es einer Journalistin nicht, ihre Überzeugung zu veröffentlichen, dass bestimmte Anschuldigungen wahr sind. Gerade auch im Hinblick auf die sogenannte MeToo-Debatte ist es gut und wertvoll, dass die Opfer von Straftaten die Möglichkeit haben, auf solche Veröffentlichungen hinzuwirken.

Deshalb ist die Kritik zurückzuweisen, die Monika Frommel und Thomas Fischer, Professorin und Professor des Strafrechts, geäußert haben. Beide meinen, dass die Vorwürfe gegen den Regisseur Dieter Wedel "unbewiesen" seien, ihn sozial vernichten und deshalb nicht hätten publiziert werden sollen. Aber was die ZEIT in dieser Angelegenheit geschrieben hat, ist sorgfältig recherchiert und dient dem Informationsinteresse der Allgemeinheit. Es handelt sich dabei um eine von der Pressefreiheit gedeckte "Verdachtsberichtserstattung", wie die nachfolgenden Überlegungen zeigen werden.

Ein "mediales Todesurteil"?

Die ZEIT blickt in ihrem MAGAZIN vom 22. März 2018 auf frühere Artikel zurück: "Am 4. Januar veröffentlichte das ZEITmagazin eine investigative Recherche: Mehrere Frauen, die mit dem Regisseur Dieter Wedel zu tun hatten, erhoben gegen ihn Vorwürfe wegen sexueller Übergriffe bis hin zu erzwungenem Sex … Erstmals wurde in der MeToo-Debatte in Deutschland ein Name genannt. Wedel stritt alles ab. Drei Wochen später veröffentlichte das Dossier der ZEIT die Ergebnisse weiterer Recherchen." Der neueste Bericht stellt nun die Frage, wie "der mutmaßliche Machtmissbrauch jahrzehntelang möglich gewesen" sei. "Wedel selbst haben wir über seinen Anwalt kontaktiert, er äußerte sich nicht zu den ihm gestellten Fragen" (ZEITmagazin v. 22.3.2018, S. 5).

In der öffentlichen Diskussion hat sich der Schwerpunkt verschoben, was vor allem die einschlägigen Artikel und Leserkommentare im Internet zeigen. Es geht nicht mehr in erster Linie um den "mutmaßlichen Machtmissbrauch" und die "sexuellen Übergriffe", die Wedel vorgeworfen werden, sondern um die Frage, ob "angeblich" Betroffene und Journalisten diesen Vorwurf öffentlich erheben dürfen. Drastisch verneint hat das die Strafrechtsprofessorin Monika Frommel. In der ARD-Sendung "Hart aber fair" am 5. Februar 2018 verfocht sie voller Zorn die Meinung, auf der Suche nach Vergeltung und Genugtuung hätten die Frauen, wenn sie tatsächlich Opfer seien, andere Wege gehen müssen und die ZEIT hätte die "unbewiesenen Anschuldigungen" nicht publizieren dürfen. Man habe Dieter Wedel damit an einen "digitalen Pranger" gestellt und so einen "historischen Rückschritt" vollzogen, der ihr "unfassbar" sei: Die Gesellschaft habe in 250 Jahren ein "geordnetes Verfahren mit verteilten Rollen entwickelt". Die ZEIT aber sei als Staatsanwalt und Richter zugleich aufgetreten, habe ein "Scherbengericht" veranstaltet und ein "mediales Todesurteil" verhängt.

Diese Kritik ist nicht berechtigt. Was zunächst den Angriff auf die ZEIT betrifft: Frommel lässt außer Acht, dass die Verantwortlichen, in Sonderheit Jana Simon und Annabel Wahba, schlicht und einfach im Recht waren. Eine "Verdachtsberichterstattung" ist den Medien prinzipiell erlaubt und kann geradezu ihre Aufgabe sein. Es hätte der Juristin in der "Hart aber fair"-Runde wohl angestanden, die Grundsatzentscheidung des Bundesgerichtshofs zu berücksichtigen, zumal Elisa Hoven, eine Kölner Strafrechtsprofessorin, sie wenige Tage zuvor in einem Meedia-Beitrag ("Einspruch, Herr Fischer!", 30.01.2018) für den Fall Wedel fruchtbar gemacht hatte. Das Urteil des BGH betont für die problematische Journalistik die "Wahrheitspflicht" und das Gebot der "pressemäßigen Sorgfalt", fügt aber sogleich an: Insoweit dürfen "die Anforderungen … nicht überspannt und insbesondere nicht so bemessen werden, dass darunter die Funktion der Meinungsfreiheit leidet. Straftaten gehören nämlich zum Zeitgeschehen, dessen Vermittlung zu den Aufgaben der Medien gehört. Dürfte die Presse, falls der Ruf einer Person gefährdet ist, nur solche Informationen verbreiten, deren Wahrheit im Zeitpunkt der Veröffentlichung bereits mit Sicherheit feststeht, so könnte sie ihre durch Art. 5 Abs. 1 des Grundgesetzes verfassungsrechtlich gewährleisteten Aufgaben bei der öffentlichen Meinungsbildung nicht durchweg erfüllen … Deshalb verdienen im Rahmen der gebotenen Abwägung zwischen dem Eingriff in das Persönlichkeitsrecht des Betroffenen und dem Informationsinteresse der Öffentlichkeit regelmäßig die aktuelle Berichterstattung und mithin das Informationsinteresse … den Vorrang" (NJW 2000, S. 1036 f.) – vorausgesetzt natürlich, dass die gebotene ("pressemäßige") Sorgfalt erfüllt ist.

Worauf es dafür ankommt, liegt auf der Hand: gründliche Recherche, Befragung auch des Beschuldigten, starke Verdachtsgründe bei objektiver Beurteilung. Unter dem strafrechtlichen Aspekt gewürdigt, anerkennt die BGH-Entscheidung, dass eine Verdachtsberichterstattung, die den Tatbestand der "Üblen Nachrede" (§ 186 StGB) erfüllt, unter bestimmten Voraussetzungen als "Wahrnehmung berechtigter Interessen" (§ 193 StGB) gerechtfertigt ist.

Das war Frommel anscheinend nicht klar. Sie greift das Vorgehen der ZEIT als empörend an, auch deshalb, weil trotz stärkster Verdachtsgründe der "Beweis" und die absolute Gewissheit fehlen. Aber abgesehen davon, dass es darauf für die Legalität einer Verdachtsberichterstattung nicht ankommt, würde uns nicht einmal ein Wedel’sches Geständnis eine absolute Gewissheit verschaffen. Problematisch und anfechtbar ist darum der (auch von anderen erhobene) Vorwurf, die ZEIT habe "unbewiesene" Anschuldigungen gegen Herrn Wedel publiziert und sich zu eigen gemacht. Man muss bedenken, dass gegebenenfalls Wedels Opfer zugleich die Zeugen seiner Straftaten sind. Weil Wedel keine Straftaten gesteht, konnte und kann man die Wahrheit nur über die Zeugenbefragung herausfinden. Die wurde im Rahmen der redaktionellen Recherchen gründlich betrieben und führte zur Überzeugung, dass die Aussagen wahr seien. Gründlicher hätten auch Staatsanwälte und Richter nicht ermitteln und sich am Ende eine Überzeugung bilden können. Von einer gerichtlichen Verurteilung des Angeklagten auf solcher Grundlage, d. h. auf Grund glaubwürdiger Zeugenaussagen, würde man wohl kaum sagen, sie beruhe auf "unbewiesenen Anschuldigungen". Gute Gründe und starke Indizien genügen, uns Überzeugungen und Beweise zu verschaffen. Im Grunde gilt das für alle Fragen, die uns das Leben stellt, z. B. für die Frage, wen ein Kind zum Vater hat.

Ein historischer Fortschritt

Frommel richtet ihren Angriff auch gegen die Zeuginnen als die Urheberinnen der ZEIT-Artikel und der für Wedel so schrecklichen Folgen. Sollten die Frauen, findet Monika Frommel, tatsächlich Anlass gehabt haben, sich über Herrn Dr. Wedel zu beschweren, dann war die ZEIT die falsche Adresse. Für Straftaten seien in ihrer Rollenaufteilung Polizei, Staatsanwaltschaft, Verteidigung und Gericht zuständig, und es gebe weitere "Institutionen", die bei Konflikten im Berufsleben für Genugtuung und Ausgleich sorgen. Auch hier lässt die Strafrechtsprofessorin die Rechtslage außer Acht. Angenommen, Dieter Wedel hat die behaupteten Straftaten tatsächlich begangen und die ZEIT hat keine Lügen verbreitet. Dann haben die Frauen durch die Bezichtigung Wedels ihr gutes Recht ausgeübt, so, wie die ZEIT mit ihrer Verdachtsberichterstattung. Und beide sind auch im Recht als Verursacher der schlimmen Folgen, die jetzt Wedel belasten. Frommel leidet mit ihm – "digitaler Pranger", "Scherbengericht", "mediales Todesurteil" – als dem wahren Opfer. Sie spricht von einem ihr unfassbaren "historischen Rückschritt", weil das Vorgehen der ZEIT gegen Wedel die Rollen von Ankläger und Richter im journalistischen Berichterstatter vereinigt und die Rolle des Verteidigers vernachlässigt habe.

Aber das muss man mit Entschiedenheit umkehren. Es ist ein historischer Fortschritt, dass ein Straftatopfer heute die Wahl hat, ob es Genugtuung vor Gericht sucht oder ob es sich an die "Vierte Gewalt" wendet. Den zweiten Weg zu gehen haben gerade nach sexuellen Übergriffen oder gar Vergewaltigungen die Opfer häufig die stärksten Gründe. Monika Frommel singt ein Loblied auf die Wahrheitsfindung im "geordneten Verfahren" der Justiz. Doch diese Verfahren treiben die betroffene Frau oft in die Verzweiflung. Sie ist das Opfer, sie kennt die objektive Wahrheit, sie weiß, dass der Beschuldigte ihr sexuelle Gewalt angetan hat. Aber ihre Aussage als Zeugin ist das einzige Beweismittel, dem der Täter und sein Anwalt die Verleugnung entgegensetzen, verbunden meist mit demütigenden Versuchen, die Glaubwürdigkeit der Zeugin zu erschüttern. Da steht nun, wie so viele auch in den Wedel-Fällen die Lage kennzeichnen, "Aussage gegen Aussage". Und jedermann weiß, dass "im Zweifel für den Angeklagten" zu entscheiden sei. Die Zeugin kennt die Tatsachen, hat also für sich eine objektiv zutreffende hundertprozentige Überzeugung, aber wenn beim Richter daran auch nur fünf Prozent fehlen, erleidet sie nach der Tat nun auch noch den höhnischen Triumph des Täters, der als ein Freigesprochener den Saal verlässt.

Die ARD-Sendung "Was Deutschland bewegt" (28. Mai 2018, 20.15 Uhr) hat die Not der Opfer sichtbar gemacht in wahrhaft bewegender, ja erschütternder Weise. Man erfuhr, dass nach einer EU-Studie von 2014 nur 15 % der Opfer sexueller Gewalt zur Polizei gehen. Viele Frauen haben Angst vor dem, was ihnen bei Behörden und vor Gericht zu widerfahren droht, wenn sie den oder die Täter anzeigen. Die Wahrheit kennend, müssen sie die staatliche Anzweifelung und die Verteidigerfragen, die sie unglaubwürdig machen sollen, als entwürdigend empfinden. Haben sie dennoch den Mut zur Anzeige, kann es bis zur Hauptverhandlung viele Monate dauern, was allemal dem Angeklagten zugutekommt.

Wedels Opfer, wenn es sie denn gibt, hatten diesen Mut nicht. Nun haben die meisten einen zusätzlichen und ganz banalen Grund, den anderen Weg zu gehen: die Verjährung der behaupteten Straftaten. Nach ihrem Eintritt verliert das Opfer ja keineswegs das Recht, den Täter öffentlich anzuklagen und sich so von einer Last zu befreien. Dies kann es dann nur über ein seinen Vorwurf publizierendes Medium erreichen. Und hier gelten eigene Regeln und Gebote. Zwar gibt es Ähnlichkeiten mit den Verfahren der Justiz (deren Ermittlungstätigkeit war für die ZEIT erklärtermaßen das Vorbild), aber natürlich arbeitet eine Zeitungsredaktion, wenn sie einem Straftatverdacht nachgeht, anders als ein Gericht – legaler- und legitimerweise! Am Ende kommt ja auch etwas anderes heraus. Keine Verfahrenseinstellung, kein Freispruch, keine rechtskräftige Verurteilung und Strafvollstreckung, sondern nur die Publizierung des Vorwurfs, wogegen der Betroffene – anders als bei einem rechtskräftigen Urteil – sich wehren kann.

Die Möglichkeit der Gegenwehr

Das berührt einen Punkt, den Frommel bei aller Redebegrenzung nicht hätte unbehandelt lassen dürfen: Dieter Wedel kann, wie einst Jörg Kachelmann, den Spieß umdrehen. Er kann Strafanträge stellen wegen "Übler Nachrede" bzw. "Verleumdung" (§§ 186, 187 StGB). Frommels Empörung erklärt sich mir daraus, dass sie die fraglichen Behauptungen zumindest bezweifelt, d. h. für möglich hält, Wedel sei unschuldig und Opfer einer Lügenkampagne. Ich kann diesen Zweifel nicht teilen, weiß aber, dass Frommel mit ihrer Verdächtigung der Anklägerinnen nicht allein steht. Ein Freund, der freilich die ZEIT-Artikel gar nicht gelesen hatte, belehrte mich im schönsten bergischen Platt: "Dat schmackt mech. Gezz, nach drissig Joar, da fällt den Mütterkes dat ien. Glüvs du denen dat?" Aber selbst wenn die "Mütterkes" objektiv die Wahrheit gesagt haben, war die Publizierung für sie nicht ganz ohne Risiko. Am oben dargelegten, medienspezifischen Rechtfertigungsgrund des "Verdachtsberichterstatters" haben sie keinen Anteil. Hätte Wedel, seine Unschuld beteuernd, Strafanträge gestellt, dann hätte die objektive Wahrheit und Nichtwiderlegbarkeit der Gewaltvorwürfe nicht genügt, den Anklägerinnen Straffreiheit zu garantieren. Nach § 186 StGB ist strafbar, "wer in Beziehung auf einen anderen eine Tatsache behauptet oder verbreitet, welche denselben verächtlich zu machen oder in der öffentlichen Meinung herabzuwürdigen … geeignet ist …" Das haben die Frauen getan, und nur, wenn "diese Tatsache erweislich wahr ist", entfällt ihre Strafbarkeit. Im Beleidigungsprozess käme es also darauf an, ob es sich "erwiese", dass Wedel die behaupteten Straftaten begangen hat. Das hinge von der Beurteilung des Richters ab. Er müsste sich Klarheit verschaffen, ob die von ihm zu vernehmenden Zeuginnen die Wahrheit sprechen. Diese gerichtliche Klärung ist also trotz Verjährung der Delikte, die Wedel begangen haben soll, noch möglich. Warum hat Wedel sie nicht gewollt?

Allerdings hat er die ihm vorgeworfenen Straftaten ausnahmslos bestritten und schon damit in schwacher Weise den Vorwurf strafbarer Handlungen umgekehrt. Denn im Bestreiten liegt die Behauptung, dass die ihn bezichtigenden Frauen wissentlich lügen, und das wiederum bedeutet den Vorwurf der "Verleumdung", § 187 StGB: "Wer wider besseres Wissen in Beziehung auf einen anderen eine unwahre Tatsache behauptet oder verbreitet, welche denselben verächtlich zu machen oder in der öffentlichen Meinung herabzuwürdigen … geeignet ist, wird … bestraft." Der den Frauen gemachte Vorwurf rechtswidriger und strafbarer Taten erstreckt sich aber auch auf die ZEIT. Denn wenn man Wedels Bestreiten in seiner Konsequenz ausformuliert, dann hält er u. a. Simon und Wahba vor: "Ihr habt bei eurer Verdachtsberichterstattung die unwahren Tatsachen, die mich verächtlich machen und herabwürdigen, zwar nicht wider besseres Wissen verbreitet, aber ihr habt sie verbreitet und damit den Tatbestand der 'Üblen Nachrede' (§ 186 StGB) verwirklicht. Auf einen Rechtfertigungsgrund könnt ihr euch bei aller Gutgläubigkeit nicht berufen, denn ihr habt die 'pressemäßige Sorgfalt' außer Acht gelassen. Lügen haben kurze Beine, und bei sorgfältiger Prüfung hättet ihr die Anschuldigungen als Lügen durchschaut." Das alles sagt Wedel nicht wörtlich, aber es steckt in seinem Bestreiten und in seinem Beteuern, "dass er jede Form von Gewalt verabscheue, gegen Frauen ebenso wie gegen Männer".

Einspruch, Herr Fischer!

Wie stellt sich nun dazu der zweite prominente ZEIT-Kritiker und Wedel-Beschützer, der Strafrechtsprofessor Thomas Fischer, ehemals Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof? Fischer, früher selbst ein stark beachteter ZEIT-Autor, hat in zwei außerordentlich langen MEEDIA-Beiträgen vom 29.1. und 8.3.2018 (die ZEIT hatte den Abdruck verweigert) die fraglichen Berichte entschieden missbilligt, ja regelrecht verrissen. Sie "fällen ein Urteil", sagt er, und nutzen dazu "Mittel der Suggestion und Verzeichnung, der Zirkelschlüssigkeit und der Denunziation". Er referiert und bewertet z. B. eine knappe, vollkommen sachliche und untertonfreie Mitteilung der ZEIT zu Wedels Aufenthalt im Krankenhaus wie folgt: Wedel, "so wird mit dem Unterton der Entrüstung berichtet, habe, statt sich der öffentlichen Vernehmung zu stellen, 'sich in ein Krankenhaus begeben'. Da tropft der Jagdeifer auf der Fährte des Verurteilten, der sich frecherweise der Vollstreckung entzieht. Nicht jeder, auch nicht jeder Verdächtige hält es aus, wenn das ganze Leben auf einen Schlag vernichtet wird". Kritisch fortschreitend in einem (mich) ermüdenden Dauerton der Ironie und des Sarkasmus befindet Fischer gegen Ende des zweiten Beitrags: "Das Tribunal, dessen vernichtendes Ergebnis allseits schon festzustehen scheint und das von der ZEIT-Redaktion sogar immer wieder als Voraussetzung (!) der Veröffentlichung genannt wird ('wir halten die Frauen für glaubhaft; deshalb berichten wir') ist auf Maßlosigkeit angelegt. Es … romantisiert die 'Aufdeckung' längst verjährter (angeblicher) Straftaten zum Dienst an einer besseren Welt." Um eine Freiheitsstrafe geht es nicht mehr, "sondern nur um die Enthüllung eines 'Systems'", und Wedel zahlt "mit seiner sozialen Vernichtung einen hohen Preis für die Demonstration des guten Gewissens von Redaktionen, die … einstweilen weiter über die wunderschönen Frauen auf den roten Teppichen der Welt berichten".

Vor dieser Kritik stehe ich ratlos. Gewiss, Fischer will Wedel vor (weiteren) Angriffen in Schutz nehmen, und er leidet mit Wedel unter dessen "sozialer Vernichtung". Mitleid haben kann man mit jedem, dem Schlimmes widerfährt, z. B. eine Freiheitsstrafe aufgrund eines Urteils oder die gesellschaftliche Ächtung nach Presseberichten. Aber auf den (ausgedruckten) 24 Seiten der Angriffe Fischers auf die verantwortlichen Redaktionsmitglieder finde ich nirgends die schlechthin entscheidende und ganz einfache Frage: rechtmäßig oder rechtswidrig? Waren die Personen, die für Wedels Leid verantwortlich sind, mit ihrem Handeln im Recht oder haben sie das Recht gebrochen? Wäre Letzteres richtig und überzeugend begründbar, dann hätte Fischer den Rechtsbruch zum Tenor seines Verrisses gemacht und er wäre bei solcher Schlagkraft mit weniger als 24 Seiten ausgekommen. Natürlich hätte er dann auch dem Dr. Wedel geraten, zwecks Auferstehung aus der "sozialen Vernichtung" die Unrechtstaten manifest zu machen durch Strafanträge wegen "Verleumdung" und "Übler Nachrede". Aber Fischer erwähnt diese Delikte gar nicht und behauptet nicht einmal, dass die betreffenden Personen rechtswidrig die ehrenrührigen Behauptungen aufgestellt bzw. verbreitet haben. In dieser Zurückhaltung liegt das Zugeständnis der Rechtmäßigkeit: Die betroffenen Frauen, davon ist auszugehen, durften die Anschuldigungen erheben; die ZEIT durfte die Texte, so wie sie geschrieben sind, veröffentlichen, sie bewegte sich damit im Spielraum erlaubter Verdachtsberichterstattung.

Dass Fischer dies stillschweigend einräumt, kann nicht überraschen. Denn auf die Schlüsselfrage: "Lügen die Anklägerinnen?", kann man nur eine seriöse Antwort geben, und das ist die Antwort, die die ZEIT gegeben hat: Nein, davon ist nicht auszugehen, Wedel hat "mutmaßlich" die sexuellen Übergriffe begangen, "höchstwahrscheinlich" sprechen die ihn beschuldigenden Frauen die Wahrheit, mögen auch bei den konkreten Tatschilderungen nach so langer Zeit Ungenauigkeiten unterlaufen sein. Dass die Frauen sich alles nur ausgedacht und ein Lügengebäude errichtet haben, um einen unschuldigen Mann, dem Gewalt und sexuelle Übergriffe fern liegen, zu vernichten, das ist abwegig, eine Verschwörungstheorie. Ich wage zu behaupten, dass dies auch niemand wirklich glaubt. Übrig bleibt nur die Binsenweisheit, dass es, wie überall im Leben, z. B. auch bei einer rechtskräftigen Verurteilung, keine vollkommene Gewissheit gebe. Aber darauf kann man natürlich nicht das Urteil stützen, die ZEIT habe mit ihrer Berichterstattung rechtswidrig gehandelt, und Fischer tut gut daran, dies auch nicht zu behaupten.

"Ich bestreite nicht, dass es euer Recht war, die ehrenrührigen Anschuldigungen zu publizieren und für glaubhaft zu befinden, aber ihr hättet es nicht tun sollen, weil Dieter Wedel darunter schrecklich leidet." Das ist im Kern der Vorwurf, den Fischer der ZEIT macht. Aber auch in dieser Form, befreit von aller eifernden Polemik, ist es ein ungerechter Vorwurf. Man muss bedenken, dass die Autorinnen und Autoren der ZEIT-Artikel sich von der Ehrlichkeit der Frauen überzeugt haben. Also mussten sie davon ausgehen, dass die Frauen, als Opfer Wedel'scher Gewalt, ihrerseits schweres Leid erfahren haben und Wedel das "Prangerleid", das er nun erfährt, durch seine Übeltaten selbst verschuldet hat.

Sorgfalt der Berichterstattung

Skandal- und Verdachtsberichterstattung ist ein alltägliches Geschäft der Medien. Wo es um Straftaten geht, da warten sie nicht auf das richterliche Urteil, das oft ja auch, wie hier wegen der Verjährung, gar nicht zu erwarten ist. Als ich im Januar die ZEIT-Aufsätze zum Fall Wedel las, war mir klar, auf welch heikles Unterfangen die ZEIT sich eingelassen hatte – "im Spannungsfeld zwischen dem Schutz des Persönlichkeitsrechts des Betroffenen und der Pressefreiheit" (Elisa Hoven). Nach der Lektüre aber war mein Urteil, dass die Verantwortlichen die übernommene Aufgabe wahrhaft vorbildlich gelöst haben. Man hatte nach meinem Eindruck gründlich recherchiert, die Gespräche, worin die Frauen ihre Erlebnisse schilderten, zweifelnd und skeptisch geführt, Herrn Wedel jede Gelegenheit zur Gegendarstellung eingeräumt und sein schlichtes Bestreiten vollständig wiedergegeben. Die "pressemäßige Sorgfalt", die der BGH fordert, schien mir gewahrt. Und nun die Beurteilung bei "Hart aber fair" und bei Meedia! Sie ist mir "unfassbar", um Monika Frommels Verdikt aufzugreifen und umzukehren. Frommel und Fischer differenzieren nicht, sie missbilligen die Artikel pauschal und sagen von keinem Verdachtsbericht, dass es gut war, ihn zu erstatten.

Z. B. der Bericht über das Gewalterlebnis, das die Zeugin Esther Gemsch im Dezember 1980 gehabt zu haben behauptet. Ihre Schilderung gibt die ZEIT in indirekter und direkter Rede wie folgt wieder: "Wedel habe sie in sein Zimmer gerissen, die Tür abgeschlossen, sie auf das Bett geworfen und versucht, ihre Hose zu öffnen und herunterzuziehen. Sie habe sich mit aller Kraft gewehrt. 'Er setzte sich rittlings auf mich, packte meinen Kopf bei den Haaren und schlug ihn immer wieder aufs Bett, einmal auch an die Wand und dann einmal auf die Bettkante. Er hat mir ins Gesicht gespuckt, seinen Speichel wieder abgeschleckt und gesagt: Wenn du mich küsst, kriegst du Schokolade'. Er habe sie als 'Drecksau' beschimpft. Mit ihrer Halswirbelsäule sei sie so hart auf die Bettkante geprallt, dass sie sich vor Schmerzen und Angst nicht mehr habe rühren können … 'Es ist ihm nicht gelungen, in mich einzudringen.' Am Ende verschwimmt ihre Erinnerung. Sie sagt, dass sie nicht mehr weiß, wie sie aus dem Zimmer gelangt sei und den Weg in die Lobby gefunden habe" (DIE ZEIT v. 25.1.2018, Der Schattenmann).

So ins Einzelne gehend hat es Frau Gemsch der sie befragenden und ihr zuhörenden Gesprächspartnerin geschildert. Was gab es weiter zu "ermitteln"? Die allein sinnvolle Frage war, ob Esther Gemsch gelogen oder ehrlich berichtet hatte. Die Journalistin hat, auch wegen bestätigender Fakten (u. a. ein ärztliches Attest zu einer folgenschweren Halswirbelverletzung), die Überzeugung gewonnen, dass Esther Gemsch ehrlich war. Das glaubten ebenso fast alle Leser. Das Ganze für böswillig "erstunken und erlogen" zu halten, kam nach der Lektüre für kaum jemanden ernstlich in Betracht. Wohl aber für Thomas Fischer. Er entnimmt dem Abschnitt nichts als ein großes Versäumnis. Aus dem Text zitiert er ein paar Sätze und knüpft daran über zwanzig Fragen, für die er beansprucht, dass sie bei einer Wahrheitsermittlung auf justiziellem Niveau hätten gestellt werden müssen, um ggf. Wedels Unschuld zu erweisen. Etwa zum misslungenen "Eindringen": "Hat er das überhaupt versucht?" "Wurde die Hose heruntergezogen?" Oder zur Misshandlung des Kopfes: "Warum 'schlägt' ein potenzieller Vergewaltiger den Kopf seines Opfers 'auf das Bett', also auf eine weiche Unterlage?" "Was hat sich situativ verändert, als der Beschuldigte den Kopf des Opfers 'gegen die Wand' schlug?" Wie ist die Zeugin aus ihrer Bettlage "heraus und 'an die Wand' gelangt? Warum schlug der Beschuldigte ihren Kopf gegen die Wand? Wie machte er das? Gegen welche Wand schlug er sie?" Wieso überhaupt dieser Übergang "zu einer wegen der möglichen Spurenlage auch für ihn selbst sehr gefährlichen Gewaltvariante?" Oder zum Aufprall auf die Bettkante: Hatte "das betreffende Hotelbett 'Bettkanten' …, die hierfür in Frage kamen?" "War die Zeugin am ganzen Körper bewegungsunfähig?" "Wie lange …?" Elisa Hoven sieht "eine Vielzahl banaler Erklärungen", die Antwort geben, und sie sieht unter den Fragen keine einzige, "die eine sachlich berichtende Zeitung zum Anlass für Zweifel nehmen müsste". In der Tat: Weil Wedel der Wahrheitsfindung zu dienen nicht bereit war, hätten alle Fragen Esther Gemsch, der einzigen Zeugin des Tatgeschehens, gestellt werden müssen. Wo sie überhaupt etwas hätte sagen können, da hätte es die strafrechtliche Beurteilung in nichts verändert. Vielleicht hätte sie geantwortet: Ja, er hat es versucht, aber vergeblich, ich hab' ja mit aller Kraft die Hose festgehalten. – Das brutale Schütteln und Rütteln meines Kopfes war schrecklich genug, auch ohne harten Aufprall. – Das Bett stand direkt an der Wand, und beim Dagegenschlagen hielt er meinen Kopf weiterhin an den Haaren gepackt. – An das Ausmaß meiner Bewegungsunfähigkeit kann ich mich nicht mehr genau erinnern. – Die Fragen, die Fischer der Journalistin ansinnt, hätten keiner relevanten Wahrheitsfindung gedient, sie hätten einen rein advokatorischen Sinn gehabt.

Im Zweifel für den Angeklagten?

Frommel und Fischer hätten die ZEIT-Aufsätze vielleicht akzeptiert, wenn ein medialer Freispruch herausgekommen wäre – nach dem Grundsatz "in dubio pro reo" und in Analogie zum gerichtlichen Freispruch Jörg Kachelmanns vom Vorwurf der Vergewaltigung. Aber hier verkennen die Kritiker die Sachlage. Im Fall Kachelmann schwand die Glaubwürdigkeit der einzigen Anklägerin im Laufe der Ermittlungen, und es blieb am Ende der starke Verdacht, dass die Anschuldigung eine böswillige Lüge war. Im Fall Wedel dagegen haben die Recherchierenden ihre anfänglichen Zweifel überwunden und eine kaum zu erschütternde Glaubwürdigkeit der Frauen erkannt. Zu schreiben "vielleicht eine Verleumdungskampagne, vielleicht hat Wedel den Frauen gar nichts getan", wäre eine Irreführung des Lesers gewesen, weil die Autorinnen an das "vielleicht" ja gar nicht geglaubt hätten. Dass unser Rechtsstaat, wo immer es darauf ankäme, auch jetzt noch an der "Unschuldsvermutung" zugunsten Wedels festhielte, ist klar – obwohl man dafür den Preis einer glatten Antinomie zahlen muss: Weil für die Straftat der Verleumdung das Gleiche gilt, ist zugunsten der Anklägerinnen zu vermuten, dass sie die Wahrheit sagen, was wiederum zu Lasten Wedels eine Schuldvermutung zur logischen Folge hat.

Die Kritik an der ZEIT hat eine deutliche Stoßrichtung. Mit Schlagworten wie "Unschuldsvermutung", "Vorverurteilung", "Anmaßung", "Tribunal", "öffentlicher Prozess", "mediales Todesurteil" fordert man von der Redaktion Respekt vor einem strafprozessrechtlichen Grundsatz: Bis zur rechtskräftigen Verurteilung gilt der Verdächtige als unschuldig, und darum ist er möglichst vor jeder Belastung zu bewahren. Ein Pressebericht über einen Nichtverurteilten und über die ihm vorgeworfenen Straftaten, so meint man, darf deshalb nicht so gefasst sein, dass er die Überzeugung des Autors ausdrückt und beim Leser die Überzeugung schafft, der Beschuldigte sei schuldig. Das wäre eine "Vorverurteilung", die ihn "an den Pranger stellt". Aber Kritik und Forderung gehen fehl. Schon die Justiz selbst kann die vorzeitige Anprangerung nicht vermeiden; man denke nur an Anklageerhebung, Inhaftierung und öffentliche Verhandlung. Und der Richter kann sogar verpflichtet sein, trotz fortlaufender Unschuldsvermutung seine Überzeugung auszudrücken, dass der Angeklagte schuldig sei. Er muss das immer dann, wenn er ein bestrafendes Urteil fällt, dem noch die Rechtskraft fehlt.

Der Verurteilung des weiterhin als unschuldig geltenden Angeklagten, der sich dagegen noch durch Rechtsmittel wehren kann, entspricht bei der "Vierten Gewalt" der durch "Üble Nachrede" belastende Bericht, dem der Betroffene einen Strafantrag entgegensetzen kann. Der Richter muss sich aufgrund der Ermittlungen eine Überzeugung bilden, und wenn er sich von der Schuld des Angeklagten überzeugt hat, muss er es ausdrücklich sagen, obwohl er doch weiß, dass die Unschuldsvermutung andauert. So ist auch vom berichtenden Journalisten zu fordern, dass er sich zu der Überzeugung bekennt, die er aufgrund seiner Recherchen gewonnen hat. Ihm dann die geäußerte Überzeugung, die Zeuginnen seien ehrlich, der Beschuldigte habe die Taten wirklich begangen, als "Voreingenommenheit" oder "Vorverurteilung" vorzuwerfen, ist genauso töricht, wie wenn man so den Richter kritisieren würde, der in erster Instanz den die Tat bestreitenden Angeklagten verurteilt hat. Darum ist mir unverständlich, weshalb sich Fischer darüber empört, dass die Berichte der ZEIT eine Überzeugung ausdrücken und sie für die Veröffentlichung entscheidend sein lassen. Wenn sich eine Überzeugung ergeben hat, dann darf und soll man es sagen. Nachdem sie anfangs gezweifelt hatten, waren die Autorinnen beim Schreiben der Artikel von der Glaubwürdigkeit der Zeuginnen überzeugt, was Fischer als "vernichtendes Ergebnis" bezeichnet. Und Fischers Vorwurf, dass dieses Ergebnis "sogar immer wieder als Voraussetzung (!) der Veröffentlichung genannt wird", ehrt die ZEIT. Schon wenn ein Zweifel an der Ehrlichkeit der Frauen zurückgeblieben wäre, hätte man Wedel den Schmerz der öffentlichen Beschuldigungen nicht angetan, obwohl man es auch dann im Rahmen einer "Verdachtsberichterstattung" gedurft hätte.