Kommentar

Das Format "Jubilee" und Cancel Culture als Geschäftsmodell: Wie der Faschismus die Medien an der Nase herumführt

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Jubilee-Gespräch mit 20 US-Rechtsextremen

Zehn Jahre lang konnten wir dabei zusehen, wie die Vereinigten Staaten Stück für Stück in den algorithmisch gesteuerten Sog des Faschismus gerieten. Nun stehen Menschen vor einem Millionenpublikum, beschwören Carl Schmitt, deklarieren sich stolz als Faschisten und werden dafür bejubelt und bezahlt. Und die US-Medien? Schlucken den Köder auch noch.

Jubilee ist ein auf den ersten Blick kurioser YouTube-Kanal. Im Format "Surrounded" ("Umringt") organisiert Jubilee Debatten, in denen eine einzelne Person sich 20 verschiedenen Menschen mit abweichender Meinung gegenübersieht, um diese argumentativ zu stellen. Die Videos, die regelmäßig Klickzahlen im Millionenbereich generieren, tragen Titel wie "Doctor Mike vs 20 Anti-Vaxxers" oder, wie Ende Juli, "1 Progressive vs 20 Far-Right Conservatives".

Diese "Debatte" zwischen dem Journalisten Mehdi Hasan und einer Gruppe selbsternannter Rechtsextremer ist ein fantastischer Einblick in den ideologischen Maelstrom namens MAGA. Diese Leute geben Hasan, einem US-amerikanischen Staatsbürger, die Hand – und sagen ihm grinsend ins Gesicht, dass sie ihn bei erster Gelegenheit deportiert sehen wollen.

Von katholischem Nationalismus über Holocaustleugnung und den Great Replacement-Verschwörungsmythos bis hin zur Staatsphilosophie eines Carl Schmitt – es war wirklich alles dabei. Eine Top-100 der größten Nazi-Hits. Ich möchte jedem Menschen, der sich einen Reim auf die aktuellen Geschehnisse in den Vereinigten Staaten machen oder die Machtergreifung des Nationalsozialismus verstehen möchte, dieses Video in voller Länge nahelegen.

Ich möchte in diesem Text lediglich auf eine der Personen eingehen, die Mehdi Hasan in dieser Debatte vor sich sitzen hatte – Connor Estelle, den selbsternannten katholischen Faschisten. Zwei Punkte möchte ich herausarbeiten:

Erstens, wir sprechen hier nicht von einer Schönwetterdiktatur, wir sprechen nicht von ein bisschen Autoritarismus, wir sprechen von waschechter Nazi-Ideologie.

Zweitens, Connor Estelle ist nicht das Problem. Connor Estelle ist lediglich das Symptom eines viel tiefgreifenderen Schismas: Katalysiert durch mediales Versagen hat sich das Overton-Fenster in den Vereinigten Staaten so weit nach rechts verschoben, dass ein öffentliches Bekenntnis zum Faschismus zum funktionierenden Geschäftsmodell verkommen ist.

Man muss es lesen, um es zu glauben

Wir beginnen bei Minute 23:23:

Hasan: Also mögen Sie nur die Teile [der Verfassung] nicht, mit denen Sie nicht übereinstimmen?

Estelle: Ja, ganz genau. Ich bin bereit, sie zu verändern.

Hasan: Wenn es zu Ihren Gunsten geschieht.

Estelle: Ja, ganz genau.

Hasan: Kann die Demokratische Partei das selbe tun?

Estelle: Natürlich nicht!

Hasan: Also glauben Sie nicht an Demokratie?

Estelle: Nein, tue ich nicht. Absolut nicht.

Hasan: Woran glauben Sie dann?

Estelle: Autokratie.

Hasan: Durch wen?

Estelle: Ganz ehrlich, egal, solange er im Einklang mit der katholischen Lehre steht.

Man sieht, Estelle hat seinen Vermeule gelesen. Adrian Vermeule, seines Zeichens vom Nazijuristen Carl Schmitt inspirierter Professor für Verfassungsrecht in Harvard (so viel zum angeblichen progressiven Bias), propagiert eine Form des katholischen Integralismus, die er als "common good constitutionalism" bezeichnet. Ein zentrales Axiom dieser Überzeugung ist, dass der Staat nicht nur das unumstößliche Recht, sondern auch die Pflicht hat, Moral qua Gesetz zu etablieren – katholische Moral, versteht sich.

Daraufhin fragt Hasan (Minute 25:04), wie Estelles Vision für die USA aussieht:

Hasan: Wie würde Connors USA aussehen?

Estelle: Ganz ehrlich, ich denke, wir würden alle Menschen deportieren, die nicht hier sein sollen.

Hasan: Nein, wie würde die Regierung aussehen?

Estelle: Ganz ehrlich, wir hätten einen wohlwollenden Führer, so wie Franco.

Hasan: Woher kommt der?

Estelle: Könnte aus einer aristokratischen Kaste kommen.

Hasan: Nein, wer wählt den Führer aus?

Estelle: Naja, das Volk. Wir könnten eine Abstimmung halten.

Hasan: Ist das nicht Demokratie?

Estelle: Natürlich kann man diesen Zustand durch Abstimmung erreichen.

Hasan: Und danach gibt es keine Wahlen mehr?

Estelle: Ganz genau, 100 Prozent.

Hasan: Und wenn der Autokrat Sie und Ihre Familie umbringt, wären Sie damit einverstanden?

Estelle: Naja, ich werde nicht Teil der Gruppe sein, die er tötet.

Hasan: Woher wollen Sie das wissen?

Estelle: Carl Schmitt hat diesen Punkt sehr gut herausgearbeitet, das ist das Freund-Feind-Schema.

Wahnwitzig. Vollkommen wahnwitzig. Dass Estelle im weiteren Verlauf krude Lügen über Franco verbreitet und behauptet, dieser hätte lediglich Kriminelle gefoltert und getötet, sei hier geflissentlich übergangen. Wirklich atemberaubend ist die vollständige Ahnungslosigkeit in Bezug auf Carl Schmitt, die Estelle hier an den Tag legt.

Wer sich mit Schmitts Arbeit beschäftigt, wird feststellen, dass das Freund-Feind-Schema ein integraler, nicht zu überwindender Bestandteil des Faschismus ist. Es gibt keinen Faschismus ohne "den Anderen", der weniger ist und ausgelöscht werden muss. Nur, weil man heute zur In-Group gehört, heißt das nicht, dass man morgen nicht als Volksschädling im Konzentrationslager landet. Gerade als Katholik in den Vereinigten Staaten sollte man vorsichtig damit sein, sich zur privilegierten Gruppe zu zählen – das ist historisch gesehen ganz dünnes Eis.

Bei Minute 26:00 fällt die Maske schließlich vollends:

Hasan: Sind Sie Fan der Nazis?

Estelle: Naja, sie haben die katholische Kirche ein wenig verfolgt. Das gefällt mir nicht.

Hasan: Was ist mit der Judenverfolgung?

Estelle: Naja, also ich bin sicher nicht damit einverstanden, Menschen ihrer Würde zu berauben.

Hasan: Aber Sie verurteilen die Judenverfolgung der Nazis nicht?

Estelle: Ich denke schon, dass es ein bisschen Judenverfolgung gab.

Hasan: Man sollte diese Show umbenennen, denn Sie sind ein bisschen mehr als rechtsextrem.

Estelle: Tja, was soll ich sagen?

Hasan: Sie könnten sagen: 'Ich bin Faschist.'

Estelle: Ja, bin ich. Absolut.

Die Chuzpa. Das nahezu psychotische Grinsen.

Estelles Worte sind die eine Sache. Die Reaktion des Raums ist die andere. Dröhnender Applaus und schallendes Gelächter. Entzückung und Zustimmung.

Wenn ein unverhohlenes Bekenntnis zum Faschismus Beifall erntet, und das auch noch in den Vereinigten Staaten, dann diskutieren wir nicht mehr. Wir schreiben die Chronik des Kollaps.

Abschließend ein Auszug aus der Debatte zum Thema Redefreiheit (Minute 28:15):

Hasan: Sie glauben nicht an Demokratie?

Estelle: Ich glaube nicht an Demokratie.

Hasan: Was machen Sie dann hier, in einer öffentlichen Debatte? Das ist gelebte Demokratie.

Estelle: Weil der Zweck die Mittel heiligt. Der Grund, warum wir momentan Redefreiheit haben, liegt darin, dass wir offen über unsere Meinungen sprechen wollen, um den Staat zu kreieren, den wir haben wollen. Das heißt nicht, dass wir die Redefreiheit noch achten werden, wenn wir erstmal gewonnen haben.

Ich habe dazu nichts zu sagen, außer:

"Wenn unsere Gegner sagen: Ja, wir haben euch doch früher die […] Freiheit der Meinung zugebilligt – ja, ihr uns, das ist doch kein Beweis, daß wir das Euch auch tun sollen! […] Daß ihr das uns gegeben habt, - das ist ein Beweis dafür, wie dumm ihr seid!" – Joseph Goebbels in einer Rede am 4. Dezember 1935

Wer nicht kritisch nachfragt, muss auch nicht gleichgeschalten werden

Nun würde ich diesen Text nicht schreiben, wäre es bei dieser absonderlichen eineinhalbstündigen Clickbaitparade geblieben. Das war keine "Debatte", das war ein Casting.

Diese 20 handverlesenen Personen, die irgendwas von ultrarechtem Konservatismus bis hin zum Faschismus vertreten, sind nicht mit dem Ziel angetreten, Hasan zu überzeugen. Sie sind mit einer provokanten Performance angetreten, um einen gut bezahlten Job in der Propagandamaschinerie der politischen Rechten abzustauben. Und Jubilee hat diesen Menschen dankbar eine Plattform zur Verfügung gestellt, an mehr als 9 Millionen Klicks allein auf YouTube (Stand 29. Juli, 12:30 Uhr) ist einiges verdient. Das gibt noch keinen Einblick in den US-amerikanischen Zeitgeist – wohl aber in die Tatsache, dass wir uns ein wirklich fürchterliches ökonomisches Anreizsystem zur Informationsdistribution haben einfallen lassen.

Nein, die eigentliche Tragödie spielt sich im Nachgang dieser Farce ab. Connor Estelle behauptet nun, er sei aufgrund seiner, in seinen Worten, "legalen, traditionell rechten" Meinung gefeuert worden – und bittet auf der christlichen Crowdfunding-Plattform GiveSendGo um Spenden. Sein Alias: "Pinesap", übersetzt "Eichenharz".

Screenshot A. Beck

15.000 US-Dollar waren das Ziel. Stand 29. Juli, 12:30 Uhr, steht sein Crowdfunding bei über 40.000 US-Dollar. Etwa 1.200 Spenden und ebensoviele Gebete bekam Estelle. Es lohnt sich, einen Blick auf die Kommentare zu werfen, um zu verstehen, in welchen Abgrund wir hier eigentlich starren.

Screenshot A. Beck

Eine anonyme Spende von 30 US-Dollar kommt mit dem Vermerk: "Die Juden kontrollieren die USA und den Rest der Welt."

Screenshot A. Beck

Eine andere anonyme Spende, diesmal von ganzen 100 US-Dollar, bemerkt mit einem Muskel-Emoji: "Es ist nichts falsch daran, Faschist zu sein. Stark bleiben, König".

Screenshot A. Beck

Der Account "The Bell Curve" steuert 20 Dollar bei und kommentiert: "Der Clip war legendär. Eier aus Stahl. Ich werde meinen Kindern von deinem Mut erzählen, wenn sie alt genug sind, ihn zu verstehen. Gott ist mit dir. Und Gottes Kinder sind mit dir. Die einzigen Menschen, die gegen dich sind, sind Atheisten, die die Gräueltaten des Kommunismus gutheißen. Vertraue niemals einem Linken deine Kinder an! Sie beten Abtreibung an. Wir werden sie durch Mehrgeburten verdrängen. Katholische Dominanz durch katholische Babies".

Screenshot A. Beck

Ein Account mit dem Namen "Nate Higgers" – man tausche das N und das H, sollte aber vorher einen Kotzeimer bereitgestellt haben – spendet 25 US-Dollar mit dem Kommentar: "Anne Frank war hässlich. Deportiert Mehdi (Hasan, Anm. d. A.). Und lasst uns Pinesap zur nächsten Shiloh Hendrix machen. Genau, lasst uns alle Gecancelten reich machen. 'Gecancelt werden' ist das Ziel".

Zur Erklärung: Anfang des Jahres ging ein Video viral, in dem eine Weiße Frau einem Schwarzen Kind das N-Wort ins Gesicht schreit. Diese Frau ist Shiloh Hendrix, die nun ebenfalls auf GiveSendGo Spenden sammelt.

Screenshot A. Beck

Der Account "THE YAKUBIAN" fügt einer 12-Dollar-Spende ein Musterbeispiel für faschistische Codesprache hinzu: "HH es steht eine super Zeit bevor halt dein Kinn oben (sic)" – gefolgt von zwei Muskel- und zwei Blitz-Emojis. Wofür "HH" steht, muss ich wohl nicht erklären. Aber man vergleiche mal die Form der Blitz-Emojis mit dem Emblem der SS.

Screenshot A. Beck

Benjamin Stevens fasst die Sache mit einer 5-Dollar-Spende zusammen: "Du bist in diese Debatte als Christlicher Nationalist gegangen, wurdest unterbrochen und hast deinen Job verloren. Jetzt bist du 35.000 US-Dollar reicher. Gratuliere, Connor. Du bist der ECHTE (sic) Sieger dieser Debatte."

Bereits vor der Ausstrahlung entlassen

Und das ist die reinste Realsatire, denn: Wie DailyKos berichtet, soll Estelle seine Subunternehmerstelle als Cloudingenieur bereits im Januar verloren haben. Auftraggeber VeUP bestätigt, dass das von ihnen beauftragte Subunternehmen Connor Estelle im Januar entlassen hat – Monate vor der Ausstrahlung.

Estelle hat durch seinen Auftritt bei Jubilee nichts außer den Respekt von ein paar Millionen Menschen verloren, aber er hat die MAGA-Sphäre um ein US-amerikanisches Median-Jahresgehalt erleichtert. Estelle hat in der Tat gewonnen. Verloren haben all jene, die ihm Geld überwiesen haben.

Diese Strategie allerdings funktionierte nur, weil der US-amerikanische Medienapparat den Köder mal wieder geschluckt und die Story unkritisch verbreitet hat. Statt Estelles Social Media zu durchforsten oder den vermeintlichen Arbeitgeber zu kontaktieren, hat man einen Naziapologeten beim Wort genommen. Ob Estelle wirklich wegen seiner politischen Ansichten gefeuert wurde, ob dies nicht vielleicht sogar gerechtfertigt gewesen wäre und von wem Estelle nun Geld einsammelt – irrelevant! Die Story muss raus!

Ohne ein Quantum Skepsis hat man einem Menschen, der zum offenen Kreuzzug gegen die Redefreiheit aufruft, eine Plattform gegeben, um die angebliche Einschränkung seiner Redefreiheit zu beweinen. Genau diese Naivität, gepaart mit einem falsch verstandenen Neutralitätsanspruch und den ökonomischen Anreizen des "Wer postet zuerst"-Journalismus, wird von denen, die "Cancel Culture!" schreien, systematisch ausgenutzt. Sie ziehen die Vierte Gewalt vor versammelter Menge durch den Kakao – und die schlürft die braune Suppe gierig aus für ein paar Cent Bodensatz.

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