In seinem Buch "Die dunkle Seite der Christdemokratie. Geschichte einer autoritären Versuchung" geht es dem österreichischen Politikwissenschaftler Fabio Wolkenstein darum, welche Einstellung das genannte politische Spektrum zu autoritären Tendenzen wie etwa im gegenwärtigen Ungarn hatte und hat. Zwar arbeitet der Autor nicht mit einem entwickelten Untersuchungsraster, gleichwohl legt er in einer anschaulichen Beschreibung die diesbezüglichen Positionierungen im historischen Verlauf dar.
Auch wenn es linke Kritiker ungern zugeben: Bei der Demokratisierung Deutschlands nach 1949 hat die christdemokratische Partei durchaus eine wichtige Rolle gespielt. Dass damit auch Anpassungen und Inkonsequenzen einhergingen, ändert nichts am Ergebnis und Gesamteindruck. Indessen darf bei dieser Deutung nicht ignoriert werden: Es gab eben auch "Schattenseiten". Diesen widmet sich in seinem entsprechend betitelten Buch "Die dunkle Seite der Christdemokratie. Geschichte einer autoritären Versuchung" der österreichische Politikwissenschaftler Fabio Wolkenstein. Als in der Gegenwart bestehende dunkle Seite verweist er auf Ungarn. Dort hat der sich als Christdemokrat verstehende Viktor Orbán bekanntlich eine autoritäre Transformation eines demokratischen Verfassungsstaates vorangetrieben. Zwar gab es mittlerweile einen Bruch mit den europäischen Christdemokraten, unterschwellig bestehen gleichwohl Kontakte und Kooperationen weiter. Diese sind aber nur ein Beispiel für das eigentliche Thema von Wolkenstein.
Er will in seinem Buch die Christdemokratie bezüglich ihrer Einstellung zum demokratischen Verfassungsstaat untersuchen, was nicht in Form einer "Kampfschrift" geschieht, könnte dies doch der Titel nahelegen. Differenziert und nüchtern geht der Autor bei seiner Untersuchung vor. Sie fragt danach, "wie die Christdemokratie eigentlich zur Demokratie und ihren Feinden steht" (S. 9). Es soll darauf eine systematische Antwort gegeben werden. Dies geschieht angesichts eines mangelnden Untersuchungsrasters dann aber doch nicht. Dafür zeichnet der Autor die ideen- und realgeschichtliche Entwicklung des christdemokratischen Lagers im europäischen Raum nach. Hierbei fällt auf, dass er dieses als "politischen Katholizismus" versteht, was wohl für eine etwas zu enge Wahrnehmung steht. Bezogen auf das 19. Jahrhundert geht es dann genauer um "die antidemokratischen Wurzeln der Christdemokratie", wie das entsprechende Kapitel überschrieben ist. Auch die "katholische Soziallehre" ist hierbei ein gesondertes Thema.
Dem schließt sich die Darstellung eines ab Mitte des 20. Jahrhunderts auszumachenden Umdenkens an, habe es doch erstmals auch Demokratieakzeptanzen im Vatikan gegeben, welche dann in einem längeren Entwicklungsprozess in der "Liberalisierung der Christdemokratie" (S. 130) gemündet hätten. Für die Bundesrepublik Deutschland sei diese insbesondere unter Helmut Kohl erfolgt, was aber mit einer ideologischen Entkernung der Partei laut Wolkenstein einhergegangen sei. Zu den Inkonsequenzen bemerkt er treffend: "Die Selbstverständlichkeit, mit der sich viele bedeutende Christdemokraten in den 1950er Jahren für das Franco-Regime einsetzten, hat einen fahlen Beigeschmack. Von Parteien, die darauf ausgerichtet waren, sich als aufrichtige Demokraten zu geben, würde man sich größere Berührungsängste mit einem autoritären Regime und seinen überzeugtesten ideologischen Fürsprechern erwarten" (S. 127). Diese postulierte Einsicht ist für die Gegenwart auch noch für den Umgang mit dem gegenwärtigen Ungarn wichtig.
Denn es gibt auch in der aktuellen Christdemokratie nach wie vor merkwürdige politische Kontakte in andere Länder, wobei diese nicht unbedingt im Einklang mit den postulierten politischen Werten stehen. Hier hätte der Autor noch einige Beispiele etwa im Kontext der Stiftungsarbeit nennen können. Er macht aber auch deutlich, dass für die Christdemokratie ein Weg zurück fatale Wirkungen hätte: "Wer sich nun also eine Renaissance der alten, vermeintlich echten Christdemokratie und christlich-konservative Politiker herbeiwünscht, die auf authentische Weise aus dem reichhaltigen Ideenrepertoire vergangener Tage schöpfen, könnte statt eines neuen Adenauer bloß einen weiteren Orbán bekommen" (S. 175 f.). Die latente Gefahr einer "autoritären Versuchung" steht demnach im Zentrum. Der Autor dramatisiert in seiner Darstellung nicht und liefert eine differenzierte Sicht. Dies geschieht in gut verständlicher Form, was auch ein weit verbreitetes Vorurteil widerlegt: Politologieprofessoren müssen keine schwer verständliche Schreibe haben.
Fabio Wolkenstein, Die dunkle Seite der Christdemokratie. Geschichte einer autoritären Versuchung, München 2022, C. H. Beck-Verlag, 222 Seiten, 16,95 Euro