Persönlicher Erfahrungsbericht einer Aktivistin

Iranrevolution 2022: Wider den Gottesstaat

iran-proteste_2022_deutschland_frauen_leben_freiheit.jpg

Auch in Deutschland finden Solidaritätskundgebungen für die Proteste im Iran statt.
Solidaritätskundgebung für die Proteste im Iran

Seit Masha Aminis Tod gehen Bilder um die Welt, die uns alle nicht loslassen können: Brennende Kopftücher, wehende Haare, um Feuer tanzende Frauen – unbedeckt, ihre Haare zeigend, Demonstrierende, die zu Tausenden auf die Straße gehen, Menschenmassen, die Freiheit und den Sturz des islamischen Regimes fordern. Sie alle werden von dem menschenverachtenden Regime brutal niedergeschlagen. Doch unsere Autorin ist überzeugt: Durch den Zusammenhalt ist der Politische Islam im Iran am Ende.

In den letzten zwei Wochen erhalte ich ständig über WhatsApp und andere Kanäle der Sozialen Medien Nachrichten zu den Protesten in meinem Geburtsland. Viele meiner Bekannten und ich sind besorgt und aufgeregt. Deswegen schlafen wir alle nicht genug. Wir lesen und konsumieren jede Nachricht, jedes Video, wir verfassen Appelle, Petitionen, rufen zu Demos auf und überlegen uns Aktionen. Und wir staunen über Aktivitäten von Schauspielerinnen, Autorinnen, Künstlern und Journalisten, die sogar Locken und Haarbüschel einsetzen. 

All das überrascht mich. Seit über 40 Jahren herrscht im Iran ein totalitäres System, das seine Architektur auf einer Geschlechter-Apartheid aufbaut, die es heute endlich zu stürzen gilt! Seit Jahren haben wir Exil-Iranerinnen uns an Politiker und Politikerinnen sowie an die Medien gewandt. Wir setzten unsere Hoffnung auch in die Linke und die Grünen, die eigentlich auf unserer Seite stehen sollten. Aber die Wirtschaftsbeziehungen und die Islamisten-Lobby im Dunstkreis manchen politischen Entscheiders waren stärker. Wir wurden nicht nur ignoriert, sondern manchmal auch als islamophob beschimpft und in die rechte Ecke geschoben.

Ist dieser Alptraum wirklich zu Ende? Auch wir hier im Westen schreien auf und lassen unsere Wut über die jahrzehntelange Ignoranz der politischen Entscheider in den westlichen Demokratien frei heraus. Wut, Frust, Verzweiflung – überall auf der Welt treiben sie tausende Iraner, und vor allem Iranerinnen, auf die Straßen.

Ich gehe dieser Tage zu den Demos und Kundgebungen. Alles überrascht mich. Nicht nur, dass die Linke und die Grünen dabei sind, sondern auch viele Iranerinnen und Iraner, die bislang wegen geplanter Iranreisen und Familien in ihrem Geburtsland immer vorsichtig gewesen sind.

Viele Menschen fühlen sich von der Brutalität der Islamischen Republik betroffen und erscheinen in großen Mengen auf den Straßen. Und es sind nicht nur Iranerinnen und Iraner oder Kurden, nein, es kommen auch Deutsche, Afghanen und sogar Ukrainer.

Plakat für eine Iran-Solidaritätskundgebung
U. a. am 1. Oktober fanden in mehreren deutschen Städten Solidaritätskundgebungen für die Proteste im Iran statt.

Es sind längst nicht wie früher nur ältere Leute unter den Demonstrierenden, sondern auch junge, gestylte Frauen. Die Menge skandiert unterschiedliche Parolen, neben "Frauen, Leben, Freiheit" auch "Weg, weg, weg, Mullah muss weg!". Aber sie hört auch aufmerksam zu, wenn die politischen Vertreter der Fraktionen ihren Beitrag zu den Protesten am Mikrofon leisten. Parteiübergreifend wird der Mut der iranischen Frauen gelobt, das Regime als terroristisch bezeichnet und von der Bundesregierung mehr Engagement verlangt. Sanktionen und der Stopp der Wirtschaftsbeziehungen mit dem Iran werden gefordert. Die Redner erreichen die Menge, ihnen wird applaudiert oder es werden mit Parolen ihre Forderungen unterstützt.

Es ist schnell klar: mehrere Hunderttausend stehen solidarisch hinter den Entwicklungen im Iran. Schön zu sehen, wie viele Menschen sich darüber Gedanken, wahrscheinlich auch Sorgen machen. Viele Anwesende scheinen sich zu kennen, freuen sich, sich wiederzusehen. Sicher fühlen sie sich stark, gemeinsam zu schreien und ihre Wut herauszulassen. Doch wie oft schon haben sie in den letzten Jahrzehnten demonstriert? Was können sie sonst noch tun? Wer gibt denn den Ton an, wer berät die Regierungen der westlichen Welt über mögliche Schritte und Aktionen? Natürlich ist es gut, wenn die Proteste in Masha Amini ihr Gesicht und im Lied von Shervin Hajipour ihre Hymne gefunden haben. Jedoch – wo sind die Symbole des Aufbruchs und der Perspektiven?

Was kommt nach der Wut der Iranerinnen und Iraner im Exil und in der Heimat? Auf den Kundgebungen wird klar, dass sie keinen Gottesstaat mehr wollen. Reicht das allein? Wie können Iranerinnen und Iraner das Land in eine andere Gesellschaftsordnung führen? Wer bietet sich als Alternative und Gegenpol zu den Terroristen an? Woher könnten die Berufsrevolutionäre kommen, wie könnten sie sich aus den oppositionellen Kreisen herauskristallisieren? Wie geht man mit den immer noch starken unterschiedlichen politischen Richtungen unter den Exil-Iranern um, wie könnte man schnell einen gemeinsamen Nenner finden? Haben sie ihre Lektionen von 1979 gelernt? Es gibt kein Handbuch für eine Revolution in einem Gottesstaat. Noch wagt keiner, diese Fragen offen zu stellen. Aber wenn sich die Demonstrationen fortsetzen – und das sollten sie unbedingt, um den Deutschen dieses wichtige Thema weiterhin vor Augen zu führen –, werden diese Fragen hochkommen. Hoffen wir, dass dann Ansätze für Antworten da sind. 

Mashas Tod hat nicht nur das Gesicht Irans, sondern auch das Gesicht des Nahen Ostens und der ganzen Welt verändert. Durch unseren Zusammenhalt ist der Politische Islam im Iran am Ende! Und wenn Iran sich von dieser frauen- und menschenrechtsverachtenden Ideologie befreit, befreit sich (hoffentlich) die ganze Welt.

Unterstützen Sie uns bei Steady!