Israels Oberster Gerichtshof positioniert sich gegen Netanjahus Justizreform

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Protest gegen die Justizreform anlässlich der ersten Anhörung vor dem Supreme Court, 12. September 2023.
Protest gegen die Justizreform

Mit hauchdünner Mehrheit hat der Oberste Gerichtshof Israels den ersten Teil der Justizreform des Kabinetts Netanjahu abgewiesen. Mit acht zu sieben entschied das Gericht, die Verfassungsänderung würde "der Kerneigenschaft Israels als demokratischem Staat ernsthaften und nie dagewesen Schaden zufügen".

Die im Juni vergangenen Jahres vom israelischen Parlament, der Knesset, beschlossene Reform, die die Entscheidungsfähigkeit der Justiz bis hinauf zum Supreme Court of Israel (SCoI) einschränken sollte, ist nicht kompatibel mit der Konzeption Israels als demokratischem Staat, so der Oberste Gerichtshof. Die Justizreform sorgt seit ihrer Konzeption durch das Kabinett Netanjahu-6 für einen tiefen Riss innerhalb der israelischen Gesellschaft, die Proteste gegen das Gesetz waren mit die größten seit Gründung der Nation.

Dass der SCoI den ersten Teil der umfangreichen Justizreform ablehnt, ist monumental, denn das Vorhaben der Regierung war als Verfassungsänderung angelegt. Technisch gesehen ist Israel auf einem Katalog "grundlegender Gesetze", den sogenannten "Basic Laws", erbaut. Diese bilden die Verfassung, es gibt für ihre Änderung aber keinen separaten legislativen Mechanismus. Wie alle anderen Gesetze auch können Basic Laws mit einer einfachen Mehrheit in der aus einer Kammer bestehenden Knesset erlassen oder geändert werden.

Adam Shinar, Professor für Verfassungsrecht an der Reichman Universität zu Herzliya, erläuterte zu Beginn des Prozesses, warum es extrem unwahrscheinlich sei, dass der SCoI eine vom Parlament formal korrekt beschlossene Verfassungsänderung einkassiert: "Dass der Supreme Court die Änderung eines Basic Law revidiert, würde bedeuten, die Vorstellung einer 'verfassungswidrigen Verfassungsänderung' zu akzeptieren: theoretisch möglich, aber unglaublich unwahrscheinlich. Es stimmt, dass das Gericht erklärt hat, dass es die Macht besitzt, Änderungen an den Basic Laws zu revidieren, doch nur in einem sehr engen Rahmen, beispielsweise, wenn die Natur Israels als jüdischer und demokratischer Staat infrage gestellt wird. Das neue Gesetz fügt Israels Demokratie auf jeden Fall Schaden zu – zum Beispiel öffnet es der Korruption die Tür –, doch ob das Gericht feststellen wird, dass es die demokratische Natur Israels untergräbt, ist definitiv eine offene Frage".

Genau das hat der SCoI nun aber mit knappestmöglicher Mehrheit festgestellt: Bereits die erste Komponente des umfangreichen Revisionspakets gefährdet die demokratische Natur Israels. Dabei geht es noch nicht einmal um die Besetzung des Obersten Gerichtshofs, sondern "lediglich" darum, ob das Gericht die Ernennung von Minister*innen durch die Regierung und die Entscheidungen der Exekutive weiterhin auf Basis der "Vernunft" ("reasonableness") revidieren darf. Mehrere von Netanjahus Vorschlägen für die Besetzung von Ministerialposten wurden in den vergangenen zehn Jahren mit diesem Argument abgewiesen.

Ein Tisch ohne Beine

Um herauszustellen, welche Tragweite dieser Präzedenzfall hat, wollen wir den etwas holprigen, aber deshalb nicht weniger erhellenden Vergleich mit der Ewigkeitsklausel des deutschen Grundgesetzes wagen. Artikel 20 unseres Grundgesetzes definiert Deutschland unter anderem als förderalen und sozialen Rechtsstaat. Diese Eigenschaften kann die Bundesrepublik unter keinen Umständen ablegen, diese Konzeption abzuschaffen, hieße, die Bundesrepublik abzuschaffen. Israels Pendant zu Artikel 20 wiederum ist die Konzeption der Nation als jüdischer und demokratischer Staat, auf diesem Fundament bauen die Basic Laws.

So schreibt das Gericht auf Seite 3 der Urteilszusammenfassung: "Die umfangreiche Reglung verbietet es allen Gerichten, Argumente hinsichtlich der Vernunft der Entscheidungen der Regierung, des Premierministers und anderer Ministerien abzuwägen. Dies schließt jede Art von Entscheidung ein, auch die Entscheidung, einzelnen hoheitlichen Aufgaben nicht nachzukommen. Die Position der Mehrheit des Gerichts ist, dass sich dieses Verbot auch auf unvernünftige und extrem unvernünftige Entscheidungen bezieht. Daraus ergäbe sich ein nie dagewesener Schaden für zwei Elemente der Kerncharakteristik Israels als demokratischem Staat, nämlich für das Prinzip der Gewaltenteilung und für das Prinzip des Rechtsstaats."

Esther Hayut, ehemalige Präsidentin des Gerichts, weist in ihrer Urteilsbegründung darauf hin, dass der SCoI die einzige real existierende Entität ist, die Entscheidungen der Regierung überprüfen und revidieren kann. Ein Gesetz, das diesen Prozess derart empfindlich einschränkt, wäre gleichbedeutend mit dem Ende jeglicher Art von Aufsicht über die Aktivitäten der Regierung.

Richterin Daphne Barak-Erez führt ergänzend dazu aus, dass das Gesetz den Überprüfungsprozess durch die Gerichte einschränkt, ohne eine Alternative dazu zu etablieren. Sie schreibt: "Metaphorisch gesprochen könnte man sagen, dass wir es hier mit einer Situation zu tun haben, in der nicht nur ein Bein des Tisches abgesägt, sondern in der auch kein Ersatz für die entfernte Stütze angebracht wird. Das Resultat ist eine instabile konstitutionelle Struktur, die umzufallen droht."

Dennoch birgt diese Entscheidung des Gerichts eine nicht unerhebliche Sprengkraft. Wie Richter Yosef Elron in seiner Gegenposition darlegt, besteht die Gefahr, dass das durch die Annulierung des Gesetzes geschaffene Vakuum in der aktuellen Situation einen größeren Schaden anrichtet als die Einschränkung der Macht der Justiz. Er schlägt daher vor, die Entscheidung auf einen günstigeren Zeitpunkt zu vertagen und das Gesetz für den Moment unangetastet zu lassen. Elron führt nicht aus, welche Art von Schaden er genau meint, doch angesichts der Tatsache, dass Israel gerade in einen Krieg von nicht eben geringer Tragweite verwickelt ist, erscheint es naheliegend, seine Warnung auch vor dem Hintergrund der Wahrung der militärisch-politischen Entscheidungsfähigkeit zu lesen.

"Die Verfassung existiert in den Herzen der Menschen"

Israel befindet sich nun in unbekannten Gefilden, auf verfassungsrechtlicher terra incognita. Fakt ist aber: Gemessen daran, was noch kommen soll, war der erste Teil der Justizreform vergleichsweise handzahm. Die restlichen Komponenten umfassen unter anderem die Berufung von Richter*innen und die Unabhängigkeit des Obersten Gerichtshofs. Wenn bereits dieser Versuch, die Revisionsmöglichkeiten der Justiz weitreichend einzuschränken, als substantiell demokratieschädigend abgewiesen wird, ist nicht davon auszugehen, dass der SCoI künftigen Elementen der Justizreform gegenüber freundlich gesinnt ist.

Israels höchstes Gericht hat mit dieser Entscheidung ein nie gekanntes Maß an Autorität für sich beansprucht. Es tat dies unter anderem aus der Überzeugung heraus, ein demokratisches Mandat hinter sich zu wissen, obgleich das Gericht kein gewähltes Gremium ist. Dieses demokratische Mandat ist der gewaltige Widerstand, den die israelische Bevölkerung seit einem Jahr leistet. Für Yoav Dotan, Professor für Verfassungsrecht an der Hebrew University zu Jerusalem, steht dieser historische Schritt des Supreme Court in untrennbarem Zusammenhang mit den anhaltenden Protesten gegen die Justizreform: "Juristische Streitigkeiten werden nicht durch Texte entschieden, sondern durch die Machtverhältnisse innerhalb der Öffentlichkeit. Die Stärke der israelischen Demokratie ist die Protestbewegung. Die Verfassung existiert in den Herzen der Menschen und die Israelis haben gezeigt, dass sie überaus starke demokratische Wurzeln haben. Das ist, was dem Gericht ermöglicht hat, so zu handeln."

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