Der Supreme Court of Israel, des Landes höchster Gerichtshof, steht vor einem existentiellen Dilemma. Nachdem die rechtsreligiöse Regierungskoalition den ersten Teil ihrer immens umstrittenen Justizreform verabschiedet hat, wird das Gericht in den kommenden Monaten eine Klage gegen just das Gesetz eruieren, das seine eigene Macht empfindlich beschneidet. Die Regierung sei dabei, Israels Demokratie "von innen heraus zu vernichten", warnt der ehemalige Premierminister Ehud Barak.
Israel ist eine der wenigen Demokratien dieser Erde, die keine Verfassung haben. Stattdessen hat das Land einen Katalog "grundlegender Gesetze", sogenannter "Basic Laws", an denen sich der Supreme Court of Israel (im folgenden "SCoI", "Supreme Court") orientiert. In jeder praktischen Hinsicht ist der Supreme Court also ein Verfassungsgericht – und doch ist die Tatsache, dass er keines ist, von exorbitanter Relevanz für die Entwicklungen der letzten Monate, die den Staat, so Präsident Isaac Herzog, an die Grenze eines ausgewachsenen Bürgerkriegs getrieben haben.
Im Juli dieses Jahres verabschiedete die Knesset, das israelische Parlament, den ersten Teil einer mehrstufigen Justizreform. Das Gesetz wurde mit 64 zu 0 angenommen – alle 56 Mitglieder der Opposition boykottierten die Abstimmung durch einen Walkout. Zehntausende Bürger*innen, wenn nicht mehr, strömten nach der Abstimmung auf die Straßen und brachten den Verkehr zum absoluten Stillstand. Die Polizei zerstreute die Protestierenden schließlich mit Pferdestaffeln und Wasserwerfern, die Bilanz zum Tagesende waren dutzende Verhaftungen und Verletzte.
Doch warum galvanisiert die Justizreform des Kabinetts Netanyahu die israelische Bevölkerung derartig? Die Antwort hierauf liegt in einem Kuriosum des israelischen Justizapparats. Die einzelnen Komponenten, die die gesamte Justizreform konstituieren, sind allesamt als Zusätze zu oder Änderungen an den Basic Laws angelegt. Anders ausgedrückt, sie sind das Pendant zu einer Verfassungsänderung.
Im Großteil der Demokratien dieser Erde bedarf es mehr als einer einfachen Mehrheit im Parlament, um die Landesverfassung zu ändern. In Deutschland beispielsweise war eine Zweidrittelmehrheit in beiden Kammern des Parlaments vonnöten, um die Schuldenbremse in unserem Grundgesetz zu verankern. Dieser Mechanismus hat seinen Sinn: Existierte er nicht, könnte jede Regierung unilateral die Verfassung der Nation, die zu lenken sie gewählt ist, zu ihren Gunsten abändern.
Im Staat Israel ist dieser Mechanismus nicht vorhanden. Die Knesset hat lediglich eine Kammer und die Partei oder Koalition, die es schafft, 61 oder mehr der 120 Sitze zu erringen, stellt die Regierung. Diese wiederum kann Gesetze zur Abstimmung stellen, die Basic Laws verändern, und mit einfacher Mehrheit angenommen werden können. Netanyahus Justizreform ist nicht nur ein Gesetzespaket, de facto ist sie eine Verfassungsänderung.
Und eben hier liegt die Crux, erklärt Adam Shinar, Professor für Verfassungsrecht an der Reichman-Universität zu Herzliya: "Dass der Supreme Court die Änderung eines Basic Law revidiert, würde bedeuten, die Vorstellung einer 'verfassungswidrigen Verfassungsänderung' zu akzeptieren: theoretisch möglich, aber unglaublich unwahrscheinlich. Es stimmt, dass das Gericht erklärt hat, dass es die Macht besitzt, Änderungen an den Basic Laws zu revidieren, doch nur in einem sehr engen Rahmen, beispielsweise, wenn die Natur Israels als jüdischer und demokratischer Staat infrage gestellt wird. Das neue Gesetz fügt Israels Demokratie auf jeden Fall Schaden zu – zum Beispiel öffnet es der Korruption die Tür –, doch ob das Gericht feststellen wird, dass es die demokratische Natur Israels untergräbt, ist definitiv eine offene Frage", schreibt Shinar in der New York Times.
Eine Entscheidung von unüberschätzbarer Tragweite
Diese offene Frage wird in den kommenden Monaten vor dem SCoI verhandelt. Der im Juli verabschiedete erste Teil der Reform beschränkt die Fähigkeit des Supreme Court, das Argument der "Vernunft" ("reasonableness") heranzuziehen, um Entscheidungen der Regierung wie beispielsweise die Ernennung von Minister*innen zu revidieren. In den vergangenen zehn Jahren nutzte der Supreme Court dieses Argument mehrfach, um Netanyahus Vorschläge für die Besetzung von Ministerialposten zu blockieren. Noch im Januar dieses Jahres entschied das Gericht, dass es "unvernünftig" sei, einen verurteilten Steuerbetrüger zum Finanzminister zu ernennen. Der Wegfall dieses Kontrollmechanismus ist, was Shinar als "Türöffner" für Korruption beschreibt.
Die erste Anhörung vor dem Supreme Court, in der die Kläger*innen ihre Argumente gegen den ersten Teil der Justizreform präsentierten, dauerte insgesamt 13 Stunden. Angesichts der Länge der Anhörung und den Bemerkungen und Fragen einiger Richter*innen war schnell klar, dass der Supreme Court diesen Fall nicht leichtfertig angenommen hat. So kommentierte die vorsitzende Richterin Esther Hayut: "Auch die Regierung und ihre Ministerien haben die Pflicht, vernünftig zu handeln. Doch wer stellt sicher, dass sie sich tatsächlich vernünftig verhalten?"
Sollte der SCoI das Gesetz annulieren, wäre das ein Präzedenzfall in der israelischen Geschichte: Noch nie hat ein Supreme Court die Änderung eines Basic Law blockiert. Sollte der SCoI das Gesetz wiederum für gültig befinden, ist nicht nur mit weiteren Streiks und Massenprotesten zu rechnen, sondern auch damit, dass die Regierung unter Netanyahu dies als Freifahrtschein für alle ausstehenden Komponenten der Justizreform versteht. Egal, wie das Gericht entscheidet: Das Urteil wird die Lage weiter galvanisieren. Und doch ist es unabdingbar, dass der Supreme Court seine Einschätzung abgibt, ist er doch die politische Institution, die in der Bevölkerung das höchste Maß an Vertrauen genießt. Es ist ein einzigartiges Dilemma mit einer unüberschätzbaren Tragweite, vor dem das Gericht nun steht: Was machen wir mit einem Gesetz, das uns selbst entmachtet?